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Seeliger-Zeiss, Anneliese; Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste [Contr.]; Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Contr.]; Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]; Bayerische Akademie der Wissenschaften [Contr.]; Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig [Contr.]; Österreichische Akademie der Wissenschaften [Contr.]; Akademie der Wissenschaften in Göttingen [Contr.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Contr.]
Die deutschen Inschriften: DI (Band 47 = Heidelberger Reihe, 13. Band): Die Inschriften des Landkreises Böblingen — Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.57659#0024
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3.2 Herrenberg
Im Schutz der 1228 erstmals erwähnten Burg legten die Pfalzgrafen von Tübingen nach der Mitte
des 13.Jahrhunderts die planmäßig gegründete Stadt Herrenberg an52. In ihr sind die seit 775 durch
Schenkungen an das Kloster Lorsch bekannten Orte Mühlhausen und Reistingen aufgegangen. Die
Herrenberger Linie der Pfalzgrafen mit dem Beinamen „Scherer“ sah sich 1382 durch Schulden ge-
zwungen, die Stadt an Württemberg zu verkaufen. Herrenberg wurde zum Sitz eines Amtes (später
Oberamts) erhoben. Die halbkreisförmige, stark abschüssige Stadtanlage umfaßt fächerförmig die
heutige ev. Stadtkirche (zunächst „capella“ St. Maria), deren monumentaler Westbau um 1280 unter
den Tübingern begonnen worden war53. Vermutlich führte die vor 1315 erfolgte Erhebung zur Pfarr-
kirche und die gleichzeitige Ablösung von der Mutterkirche St. Qumtinus in Mühlhausen zu weite-
ren Baumaßnahmen. Jedenfalls waren 1388 sieben Altäre vorhanden, denn in diesem Jahr stiftete der
Vorsitzende des Landkapitels Herrenberg, Syfndus Vihhn, sieben Messen für sein Seelgerät, darunter
je eine in die Kapellen von Mühlhausen und Raistmgen54. Um 1439 wurde die Kirche unter würt-
tembergischem Patronat zur Stiftskirche erhoben. Ihre eigentliche Blütezeit erlebte sie unter dem
Grafen (ab 1495 Herzog) Eberhard im Bart (er regierte 1459 — 1498). Dieser rief die Brüder vom Ge-
meinsamen Leben ins Land und etablierte in Herrenberg eines der Zentren dieser Reformbewegung,
indem er das Stift 1481 in ein Kollegiatstift dieser Kongregation umwandeln ließ32 33. Die Brüder voll-
endeten das Gotteshaus durch Ausbau und Einwölbung der dreischiffigen Halle und durch eine ein-
heitliche spätgotische Innenausstattung des Chores mit Chorgestühl und Hochaltar-Retabel (nrr. 156,
160)56. Durch ihr theologisches Reformkonzept beeinflußten sie die Bildungspolitik Eberhards und
wurden zugleich durch ihre künstlerischen Schöpfungen als Auftraggeber beispielgebend für das
ganze Land. Unter Herzog Ulrich wurden diese vielversprechenden Ansätze durch die Vertreibung
der Brüder vernichtet. In Herrenberg zogen seit 1516 die weltlichen Chorherren wieder em, muß-
ten aber schon 1534 der Reformation weichen. Die verheerenden Stadtbrände von 1466 und 1635,
die praktisch die gesamte mittelalterliche Häusersubstanz vernichteten, haben die Kirche verschont.
Jedoch waren seit dem Mittelalter wegen des instabilen Untergrundes immer wieder Stützmaßnah-
men notwendig, die zum Bau des in Süddeutschland einzigartigen massiven „Westwerks“ führten und
große Summen verschlangen. So wurden 1886 — 1890 neue Sicherungsarbeiten unter dem Architek-
ten Christian Friedrich Leins (1814 — 1892) ins Werk gesetzt, die eine Regotisierung des Innern nach
sich zogen. Die letzte Bausicherung versuchte 1971 — 1982 den Westturm und den Chor zu stabili-
sieren und beseitigte im Innern wiederum die Farbfassung und Ausstattung der Neugotik.
Der Herrenberger Inschriftenbestand setzt mit einer Glocke (nr. 2) aus dem 12.Jahrhundert ein, die
zu den ältesten Exemplaren in Württemberg zählt. Doch gehört diese Glocke ursprünglich nicht zum
Geläute der späteren Marienkirche, sondern sie ist wohl mit der Pfarrkirche St. Quintinus des abge-
gangenen Ortes Mühlhausen, Mutterkirche für das jüngere Herrenberg, zu verbinden. Im Jahr 881
sind eine Glocke und ein Lektionar als die Stiftung eines Wolfbert für diese Kirche erwähnt, was sich
aber nicht auf die heutige Glocke beziehen muß. Die 778 erstmals genannte Pfarrkirche mit Fried-

32 AmtlKreisbeschreibung III, 1978, 97f.; Der Kreis Böblingen 1983, 259 — 262; Scholkmann (wie Anm. 12) 183ff., bes.
190 f.
Für die Datierung entscheidend ist ein Ablaßbrief vom 22. März 1284; vgl. Janssen, R., Unsere Liebe Frau von Her-
renberg im Mittelalter. In: Stiftskirche Herrenberg 1993, 15 — 37; 330-332.
34 Seme Grabplatte ist nicht erhalten, aber seine Stiftung ist belegt durch eine großformatige Miniatur als Stifterbild,
die ihn zusammen mit vier Nonnen des Klosters Reuthin und einem Dominikaner-Mönch zeigt; heute WLM Stutt-
gart, Inv. Nr. 7796. — Vgl. dazu Janssen, ebd., 20 — 22.
33 Schöntag, W, Die Anfänge der Brüder vom gemeinsamen Leben in Württemberg. In: Aus Geschichte und ihren
Hilfswissenschaften. FS Walter Heinemeyer. Marburg 1979, 459 — 485; hier 465 — 467; Faix, G., „Kein Mönch zu sein
und dennoch wie ein Mönch zu leben“. Die Brüder vom Gemeinsamen Leben in Herrenberg. Ebd. 51—78;
Mertens, D., Eberhard im Bart und der Humanismus. In: Eberhard und Mechtild. Untersuchungen zu Politik und
Kultur im ausgehenden Mittelalter. Hg. v. H. Maurer (Lebendige Vergangenheit, Zeugnisse und Erinnerungen.
Schriftenreihe des Württ. Geschichts- und Altertumsvereins 17). Stuttgart 1994, 35-81; bes. 52f. (mit weiter-
führenden Literaturangaben); Köpf, U. u. Lorenz, S., Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben.
Beiträge aus Anlaß des 500. Todestages des Tübinger Theologen (Contubernium 47). Stuttgart 1998.
Die Wirksamkeit der Fraterherren in der Stiftskirche ist heute noch sichtbar an der Einwölbung des Langhauses, ein-
setzend 1487/88, und dem Anbau der Portalvorhalle. Die Neue Sakristei 1502 auf der Südseite ist nicht erhalten.
Offenbar wurde die gesamte Ausstattung neu angeschafft oder repariert; dazu gehörten die noch erhaltene Kanzel
1503, die Chorverglasung, eine Orgel auf dem Lettner (erwähnt 1487/88, 1488/89 und 1516/17), mindestens eine
neue Glocke, neue Meßgewänder und wohl auch Vasa sacra, von denen drei Kelche erhalten sind. Außerhalb Her-
renbergs waren die Brüder als Inhaber des Patronats baupflichtig für den Kirchenneubau in Gärtringen 1496 und den
Chorneubau in Hildrizhausen 1515.
 
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