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Seeliger-Zeiss, Anneliese; Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste [Mitarb.]; Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Bayerische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig [Mitarb.]; Österreichische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Akademie der Wissenschaften in Göttingen [Mitarb.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Mitarb.]
Die deutschen Inschriften: DI (Band 47 = Heidelberger Reihe, 13. Band): Die Inschriften des Landkreises Böblingen — Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.57659#0056
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Buchstaben haben den Charakter von Zierbuchstaben, so das trapezförmige A mit schneckenförmig
eingerollter linker Haste, verkürzter rechter Haste und geknicktem, sehr hoch angesetztem Mittel-
balken; der überstehende Deckbalken ist links ebenfalls zur Spirale nach oben eingerollt. Das E ist als
flacher offener Bogen mit kurzem Mittelbalken gebildet. Das kapitale M ist trapezförmig und hat
einen hochsitzenden Mittelteil. Das T erscheint in runder und in kapitaler Form, wobei die runde
Form durch die unten nach links zur Spirale eingerollte Haste auffällt. Beim eingerollten G ist die
Tendenz zur Spirale weniger auffällig, weil dieser aus der Rundung entwickelte Buchstabe ohnehin
zu dieser Form neigt. Auf Worttrenner wurde verzichtet, jedoch ist Anfang und Ende des Textes
markiert durch das übermäßig große Kreuz, das aus gedoppelten Wachsfäden gelegt ist, die sich beid-
seitig einrollen ließen und somit gegenständige Spiralen bilden. Em gleichartiges Kreuz besitzt die
Glocke in Susch (Graubünden; Ansetzung l.H. 13.Jh.), deren Schrift jedoch nicht vergleichbar ist,
weil sie durchgehend aus Doppelfäden, hier aber aus einfachen Fäden gebildet wurde4.
Auch wenn Glockeninschriften ohne rahmende Stege bis ins 13.Jahrhundert hinein vereinzelt vor-
kommen, ist dies immer em Merkmal hohen Alters. Als Parallelen sind die undatierten Glocken in
Amorbach5 und Waldböckelheim6 zu nennen, deren vorgeschlagene Ansetzung im 13.Jahrhundert
vermutlich zu spät ist, und deren Entstehung noch vor 1200 durchaus mit der Baugeschichte ihrer
Glockenträger vereinbar wäre. In Umrißform, Schrifttechnik und Textwahl vergleichbar ist die um
1200 angesetzte Glocke in Nemsdorf b. Querfurt (Sachsen-Anhalt)7, die allerdings die Inschrift
bereits zwischen Stegen umlaufen läßt. Deshalb ist eine Ansetzung der Herrenberger Glocke noch
vor 1200 denkbar. Damit gehört die Glocke zu den ältesten erhaltenen Exemplaren in Baden-Würt-
temberg und darüber hinaus im südwestdeutschen Bereich.
In Herrenberg wird die Glocke als „Armsünderglöckle“ bezeichnet. Sie kann aufgrund ihrer In-
schrift, bezogen auf den Namen des höchsten Gottes und Weltenrichters, die Funktion einer Ge-
richtsglocke gehabt haben6. Offenbar gehörte sie nicht zu dem aus vier Glocken bestehenden alten
Geläute, denn sie ist durch Gottlieb Friedrich Hess in der vor 1761 verfaßten Stadtchronik nicht
verzeichnet9. Ihre Sonderfunktion war dadurch augenfällig, daß sie seit 1772 in einem Gestell außen
am Glockenturm hing, dann im 19. Jahrhundert im Innern des Turms. Seit der Rückkehr aus dem
Hamburger Glockenlager 1946 ist ihr Platz in der Glockenstube.
Jedenfalls ist die Glocke älter als die Herrenberger Stiftskirche (erstmals 1275 genannt). Neuerdings
wird die bereits 778 erwähnte „basilica“10 in dem aufgelassenen Ort Mühlhausen, von der die Stifts-
kirche zunächst als „capella“11 juristisch abhängig war, als Ort ihrer Herkunft vorgeschlagen12.
1 Uber diese Technik vgl. DGWürttHohenzollern 3 (Einl.) Anm. 2 mit Vergleichsbeispielen.
2 LThK 9 (1964) Sp. 1382.
3 Vgl. die Glocke in Bodelshofen (Stadt Wendlingen a. N., Lkr. Esslingen); DGWürttHohenzollern nr. 1077 und
Abb. 123. Ferner Alberstedt b. Querfurt (Sachsen-Anhalt); Schilling, M., Glocken. Gestalt, Klang und Zier. Dresden
1988, 136. Für beide wird eine Ansetzung im 13. Jahrhundert vorgeschlagen. — Zu solchen Beschwörungsformeln
und ihrer apotropäischen Wirkungskraft vgl. Otte, Glockenkunde 1884, 124; Kizik, E., Die Funktion der Glocken-
inschriften. In: Vom Quellenwert der Inschriften 1992, 189-207; bes. 198-200.
4 CIMAH V (Ticino e Grigioni) nr. 53 mit Abb. 131-134.
5 Vgl. DI 8 (Mosbach, Buchen, Miltenberg) nr. 540 mit Abb.; hier schon ausgeschnittene Buchstaben bei steiler, alter-
tümlicher Zuckerhutform.
6 Vgl. DI 34 (Bad Kreuznach) nr. 16 mit Abb.
7 Schilling (wie Anm. 3), Kat. nr. 83 mit Abb. 83, Fig. 235. — Ebenfalls schon zwischen Stegen eingespannt sind die
sehr ähnlichen Inschriften der Glocken von Bärstadt und Dickschied mit der Ansetzung „13. Jh.“. Mit ihren noch
reicheren spiralförmigen Verzierungen erinnern sie an Initialen spätromanischer Buchmalerei; vgl. DI 43 (Rhein-
gau-Taunus-Kreis) nrr. 16, 17, Abb. 6, 6a, 7, 7a.
8 Zu Name, Funktion und Geschichte der Glocke vgl. Schmolz, Glocken Herrenberg 1981, 14 f; zum Herrenber-
ger Geläute grundlegend Huber, Claus, in: Stiftskirche Herrenberg 1993, 575 — 595.
9 Hess dokumentiert das alte Geläute erstmals; Hess, Chronik Herrenberg, Stuttgart, WEB Cod. hist. F 278, Bd. 2(b),
p. 1426-1427. Bis 1879 war es noch unversehrt vorhanden und umfaßte - abgesehen von der vorliegenden Glocke
— zwei undatierte Glocken des 15. Jahrhunderts, ferner Glocken von 1602 und 1630; vgl. nrr. 42, 64, 294, 389.
10 Dieser „Urpfarrkirche“ stiftete em Wolfbert im Jahre 881 ein Lektionar und eine Glocke. Letztere kann zwar nicht
mit der vorliegenden Glocke identisch sein, ist aber als eine der frühesten für Württemberg schriftlich bezeugten
Glocken bemerkenswert. Auch beweist dies, daß die bis ms 18.Jahrhundert hinein vom Abriß verschonte Kirche
von Mühlhausen ursprünglich Glocken besaß; Janssen, „Unsere Liebe Frau von Herrenberg“ im Mittelalter. In:
Stiftskirche Herrenberg 1993, 16.
11 Wirtembergisches Urkundenbuch 9, nr. 4320. Interpretation der Urkunde bei Janssen, Die Baugeschichte. In:
Stiftskirche Herrenberg 1993, 330 ff.
12 Huber, in: Stiftskirche Herrenberg 1993, 579.
OABHerrrenberg 1855, 109. — DGWürttHohenzollern nr. 283 und Text S. 3, Abb. 1,2. — Schmolz, Glocken Herren-
berg 1981, 14 f. — Huber, Claus, Die Glocken — Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Glockenmuseum. In: Stiftskirche
Herrenberg 1993, 578f. mit Abb., 592 mit Kat. Nr. 5.

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