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Nachrufe
disch einwandfreien Durchdringung der Materie ein weiteres Charakteristikum Her-
bert Hungers in bemerkenswerter Deutlichkeit hervortritt - seine Neigung zu sprach-
lichen „Neologismen“ (eine Eigenschaft, die übrigens seine große Affinität zu Johann
Nestroy erklärt), seine Bereitschaft, bestimmte Phänomene - hier auf dem Gebiete der
griechischen Schrift des Mittelalters - in sprechende neue Begriffe zu fassen, seine
Freude an gelungenen Metaphern: 1954 war es die „Perlschrift“ als Bezeichnung für
eine besonders gepflegte Stilrichtung der griechischen Buchminuskel des (späten 10.
und des) 11. Jahrhunderts; 1972 (nach einer „Vorstufe“ aus dem Jahre 1961) folgte die
„Fettaugenmode“, 1977 die „Auszeichnungsmajuskel“ - alles Ausdrücke, die sich in
der Zwischenzeit (auch in der nichtdeutschsprachigen Literatur!) voll durchgesetzt
haben. Und noch in seinem letzten paläographischen Beitrag, in seiner Studie zur
Schriftästhetik in den originalen kaiserlich-byzantinischen Auslandsschreiben der
Komnenenzeit (1998), findet sich der ganz auf dieser Linie liegende Satz, die kaiserli-
chen Kanzlisten, die sich im 12. Jahrhundert in diesen „außenpolitischen Noten“ einer
prunkvoll stilisierten Schrift bedienten, erinnerten an eine „kleine Elite aus einer
«Hofreitschule» in der Art der Wiener Lipizzaner“. - Zwei grundlegende Publikatio-
nen markieren Hungers Auseinandersetzung mit der griechischen Paläographie: sein
„Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen“ (1961; im Sammelband „Die
Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel“) und seine magistrale Zusam-
menfassung „Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur“ (1989;
in neugriechischer Übersetzung 1995).
Die zweite Folge, die sich aus Hungers Beschäftigung mit den griechischen Hand-
schriften der Österreichischen Nationalbibliothek fast zwangsweise ergab, war sein
Eindringen in die byzantinische Literatur, in ein Gebiet, in das er sich als „gelernter“
Klassischer Philologe erst einarbeiten mußte - ein Vorgang, der sich mit der bereits
apostrophierten gründlichen Zielstrebigkeit vollzog, die Hungers Persönlichkeit so
auszeichnete: Sehr bald zeigte es sich, daß die Codices, die Hunger zu beschreiben
hatte (der erste, 1961 erschienene Vollkatalog galt den Codices historici und den Codi-
ces philosophici et philologici der Wiener Sammlung), nicht nur Werke der klassischen
griechischen Literatur enthielten, sondern auch mittelalterlich-griechisches, eben
byzantinisches Schrifttum, und diese Welt war es, die Hungers weiteres wissenschaft-
liches Wirken in entscheidender Weise prägen sollte: Schon 1952 erschien sein erster
diesbezüglicher Beitrag (zu Kaiser loannes V. Palaiologos und dem Berge Athos; nach
Inedita aus dem Cod. Vind. phil. gr. 241), und bald folgten Studien zu so bedeutenden
byzantinischen Literaten wie Theodoros Metochites (eine Persönlichkeit, die Hunger
noch des öfteren beschäftigen sollte) und loannes Tzetzes. Auch wenn Hunger selbst
diese Periode später einmal bescheiden als „Erlernen des Handwerkzeugs“ bezeichne-
te, so führten die in diesen Jahren vollbrachten Leistungen doch sehr bald zur ver-
dienten internationalen Anerkennung und bereits 1954 zur Verleihung der venia
docendi für Byzantinistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.
Das Bild, das hier von den wissenschaftlichen Anfängen Herbert Hungers gezeich-
net werden soll, wäre unvollständig, wollte man darauf vergessen, daß in diese Jahre
auch die Ausarbeitung seines „Lexikons der griechischen und römischen Mythologie“
(erstmalig erschienen 1953; insgesamt acht Auflagen bis 1988) fällt - eines Standard-
werkes, das sich von diversen Vorgängern vor allem dadurch unterscheidet, daß es sich
mit Erfolg auch darum bemüht, die Nachwirkungen der Stoffe und Motive der anti-
ken Mythologie in der Literatur, in der Musik und in der bildenden Kunst durch die
Nachrufe
disch einwandfreien Durchdringung der Materie ein weiteres Charakteristikum Her-
bert Hungers in bemerkenswerter Deutlichkeit hervortritt - seine Neigung zu sprach-
lichen „Neologismen“ (eine Eigenschaft, die übrigens seine große Affinität zu Johann
Nestroy erklärt), seine Bereitschaft, bestimmte Phänomene - hier auf dem Gebiete der
griechischen Schrift des Mittelalters - in sprechende neue Begriffe zu fassen, seine
Freude an gelungenen Metaphern: 1954 war es die „Perlschrift“ als Bezeichnung für
eine besonders gepflegte Stilrichtung der griechischen Buchminuskel des (späten 10.
und des) 11. Jahrhunderts; 1972 (nach einer „Vorstufe“ aus dem Jahre 1961) folgte die
„Fettaugenmode“, 1977 die „Auszeichnungsmajuskel“ - alles Ausdrücke, die sich in
der Zwischenzeit (auch in der nichtdeutschsprachigen Literatur!) voll durchgesetzt
haben. Und noch in seinem letzten paläographischen Beitrag, in seiner Studie zur
Schriftästhetik in den originalen kaiserlich-byzantinischen Auslandsschreiben der
Komnenenzeit (1998), findet sich der ganz auf dieser Linie liegende Satz, die kaiserli-
chen Kanzlisten, die sich im 12. Jahrhundert in diesen „außenpolitischen Noten“ einer
prunkvoll stilisierten Schrift bedienten, erinnerten an eine „kleine Elite aus einer
«Hofreitschule» in der Art der Wiener Lipizzaner“. - Zwei grundlegende Publikatio-
nen markieren Hungers Auseinandersetzung mit der griechischen Paläographie: sein
„Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen“ (1961; im Sammelband „Die
Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel“) und seine magistrale Zusam-
menfassung „Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur“ (1989;
in neugriechischer Übersetzung 1995).
Die zweite Folge, die sich aus Hungers Beschäftigung mit den griechischen Hand-
schriften der Österreichischen Nationalbibliothek fast zwangsweise ergab, war sein
Eindringen in die byzantinische Literatur, in ein Gebiet, in das er sich als „gelernter“
Klassischer Philologe erst einarbeiten mußte - ein Vorgang, der sich mit der bereits
apostrophierten gründlichen Zielstrebigkeit vollzog, die Hungers Persönlichkeit so
auszeichnete: Sehr bald zeigte es sich, daß die Codices, die Hunger zu beschreiben
hatte (der erste, 1961 erschienene Vollkatalog galt den Codices historici und den Codi-
ces philosophici et philologici der Wiener Sammlung), nicht nur Werke der klassischen
griechischen Literatur enthielten, sondern auch mittelalterlich-griechisches, eben
byzantinisches Schrifttum, und diese Welt war es, die Hungers weiteres wissenschaft-
liches Wirken in entscheidender Weise prägen sollte: Schon 1952 erschien sein erster
diesbezüglicher Beitrag (zu Kaiser loannes V. Palaiologos und dem Berge Athos; nach
Inedita aus dem Cod. Vind. phil. gr. 241), und bald folgten Studien zu so bedeutenden
byzantinischen Literaten wie Theodoros Metochites (eine Persönlichkeit, die Hunger
noch des öfteren beschäftigen sollte) und loannes Tzetzes. Auch wenn Hunger selbst
diese Periode später einmal bescheiden als „Erlernen des Handwerkzeugs“ bezeichne-
te, so führten die in diesen Jahren vollbrachten Leistungen doch sehr bald zur ver-
dienten internationalen Anerkennung und bereits 1954 zur Verleihung der venia
docendi für Byzantinistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.
Das Bild, das hier von den wissenschaftlichen Anfängen Herbert Hungers gezeich-
net werden soll, wäre unvollständig, wollte man darauf vergessen, daß in diese Jahre
auch die Ausarbeitung seines „Lexikons der griechischen und römischen Mythologie“
(erstmalig erschienen 1953; insgesamt acht Auflagen bis 1988) fällt - eines Standard-
werkes, das sich von diversen Vorgängern vor allem dadurch unterscheidet, daß es sich
mit Erfolg auch darum bemüht, die Nachwirkungen der Stoffe und Motive der anti-
ken Mythologie in der Literatur, in der Musik und in der bildenden Kunst durch die