15. Mai 2004 | 45
Am 23.3. 1886 haben der vorsitzende Minister v. Lutz und von Crailsheim
(Minister des Äußeren und des königlichen Hauses) den Münchner Ordinarius für
Psychiatrie, Bernhard v. Gudden vertraulich empfangen und — nach der ersten Dar-
stellung am 26.6.1886 in der Abgeordnetenkammer - ihm vermittelt, daß es an der
entsprechenden Ausbildung des Charakters S.M. fehle, daß S.M. allzu jung auf den
Thron gekommen, von allen möglichen Leuten verzogen, die eigene Stellung über-
schätze. Dr. v. Gudden habe erwidert, er nehme als sicher an, daß der König geistes-
krank sei [Bayerisches HSA, Staatsrat 13/6,W. Wöbking, 1986, S. 55/59]. Nach ein-
gehender Diskussion in der Kammer der Abgeordneten räumte von Lutz ein, er habe
Dr. v. Gudden „in starken Farben die Eigenheiten seiner Majestät vorgeführt und erwähnt,
dass der König für geisteskrank gehalten werde“. Dr. v. Gudden hatte zu dieser Zeit vor-
wiegend durch neuroanatomische Arbeiten bereits hohes wissenschaftliches Ansehen
gewonnen. Es liegt nahe anzunehmen, daß er in dieser Situation, in der ihm sein
höchster Vorgesetzter wahrscheinlich die Lage des Königreichs dramatisch dargestellt
und die Absetzung des Königs wegen Geisteskrankheit als einzigen Ausweg genannt
hatte, die Bereitschaft zur Unterstützung dieses Vorgehens kaum verweigern konnte.
Dr. v. Guddens rasches Urteil über den König resultierte nicht aus direkter Beob-
achtung, v. Gudden hatte den König nur einmal zum Bericht über Prinz Otto gese-
hen. Seine Überzeugung, der König leide an derselben Geisteskrankheit wie sein
Bruder Otto, spielte eine bedeutsame Rolle in seiner Urteilsbildung.
In den folgenden Wochen sammelte die Regierung mit Dr. v. Gudden, der sich
dazu mindestens dreimal in der Privatwohnung des Ministers v. Crailsheim traf und
vertraulich Personen vom Hofe des Königs mit befragte, Material gegen Ludwig II.
Der vorsitzende Minister v. Lutz konnte durch Bestechung zwei Bände des gehei-
men Tagebuchs des Königs an sich bringen. Etwa 14 Tage vor Erhalt des Gutachter-
auftrags erklärte v. Gudden seinen Assistenten, er halte den König „für krank und zwar
für verrückt“. Nachdem Ludwig im April 1886 Bismarck erneut um Hilfe gebeten
hatte, ließ v. Lutz den Rohentwurf eines Gutachtens Bismarck vorlegen. Bismarck
bemerkte, das verwendete Material stamme aus dem königlichen Papierkorb. Er
äußerte Bedenken gegenüber nur einer medizinischen Gutachtermeinung [G. Hay,
„Psycholog. Medicine, 1977, 7, 189—196]. Das löste in Bayern eine verstärkte Mate-
rialsammlung aus. Prinz Luitpold, der künftige Regent, unterzeichnete im Mai 1886
einen Brief an alle wichtigen Personen in der Umgebung des Königs: „die unver-
kennbar hervortretende Erkrankung S.M. hat... das Fand in eine traurige Lage gebracht, so
dass ich es für meine Pflicht erachte... einen geordneten Fortgang der Regierung zu sichern...
Zu diesem Zweck ist es eforderlich ein möglichst genaues Bild des geistigen Zustands S.M.
zu erhalten. Da Sie lange Zeit in der Umgebung S.M. des Königs sich befanden, werden Sie
in der Lage sein, verläßliche Tatsachen anzugeben, welche eine Verwertung bei Abgabe eines
psychiatrischen Gutachtens gestatten“ [Geheimes Hausarchiv].
Die Minister erhielten aus verschiedenen Quellen einen bunten Strauß von
Schilderungen intimer, teilweise despotischer und durchwegs negativer Verhaltens-
weisen des Königs. Zusammen mit den Informationen der Regierung über die Kor-
respondenz des Königs, über Schulden, groteske Geldbeschaffungsaktionen, zahlrei-
che handschriftliche Befehle und Tagebuchaufzeichnungen bildeten sie die Grund-
Am 23.3. 1886 haben der vorsitzende Minister v. Lutz und von Crailsheim
(Minister des Äußeren und des königlichen Hauses) den Münchner Ordinarius für
Psychiatrie, Bernhard v. Gudden vertraulich empfangen und — nach der ersten Dar-
stellung am 26.6.1886 in der Abgeordnetenkammer - ihm vermittelt, daß es an der
entsprechenden Ausbildung des Charakters S.M. fehle, daß S.M. allzu jung auf den
Thron gekommen, von allen möglichen Leuten verzogen, die eigene Stellung über-
schätze. Dr. v. Gudden habe erwidert, er nehme als sicher an, daß der König geistes-
krank sei [Bayerisches HSA, Staatsrat 13/6,W. Wöbking, 1986, S. 55/59]. Nach ein-
gehender Diskussion in der Kammer der Abgeordneten räumte von Lutz ein, er habe
Dr. v. Gudden „in starken Farben die Eigenheiten seiner Majestät vorgeführt und erwähnt,
dass der König für geisteskrank gehalten werde“. Dr. v. Gudden hatte zu dieser Zeit vor-
wiegend durch neuroanatomische Arbeiten bereits hohes wissenschaftliches Ansehen
gewonnen. Es liegt nahe anzunehmen, daß er in dieser Situation, in der ihm sein
höchster Vorgesetzter wahrscheinlich die Lage des Königreichs dramatisch dargestellt
und die Absetzung des Königs wegen Geisteskrankheit als einzigen Ausweg genannt
hatte, die Bereitschaft zur Unterstützung dieses Vorgehens kaum verweigern konnte.
Dr. v. Guddens rasches Urteil über den König resultierte nicht aus direkter Beob-
achtung, v. Gudden hatte den König nur einmal zum Bericht über Prinz Otto gese-
hen. Seine Überzeugung, der König leide an derselben Geisteskrankheit wie sein
Bruder Otto, spielte eine bedeutsame Rolle in seiner Urteilsbildung.
In den folgenden Wochen sammelte die Regierung mit Dr. v. Gudden, der sich
dazu mindestens dreimal in der Privatwohnung des Ministers v. Crailsheim traf und
vertraulich Personen vom Hofe des Königs mit befragte, Material gegen Ludwig II.
Der vorsitzende Minister v. Lutz konnte durch Bestechung zwei Bände des gehei-
men Tagebuchs des Königs an sich bringen. Etwa 14 Tage vor Erhalt des Gutachter-
auftrags erklärte v. Gudden seinen Assistenten, er halte den König „für krank und zwar
für verrückt“. Nachdem Ludwig im April 1886 Bismarck erneut um Hilfe gebeten
hatte, ließ v. Lutz den Rohentwurf eines Gutachtens Bismarck vorlegen. Bismarck
bemerkte, das verwendete Material stamme aus dem königlichen Papierkorb. Er
äußerte Bedenken gegenüber nur einer medizinischen Gutachtermeinung [G. Hay,
„Psycholog. Medicine, 1977, 7, 189—196]. Das löste in Bayern eine verstärkte Mate-
rialsammlung aus. Prinz Luitpold, der künftige Regent, unterzeichnete im Mai 1886
einen Brief an alle wichtigen Personen in der Umgebung des Königs: „die unver-
kennbar hervortretende Erkrankung S.M. hat... das Fand in eine traurige Lage gebracht, so
dass ich es für meine Pflicht erachte... einen geordneten Fortgang der Regierung zu sichern...
Zu diesem Zweck ist es eforderlich ein möglichst genaues Bild des geistigen Zustands S.M.
zu erhalten. Da Sie lange Zeit in der Umgebung S.M. des Königs sich befanden, werden Sie
in der Lage sein, verläßliche Tatsachen anzugeben, welche eine Verwertung bei Abgabe eines
psychiatrischen Gutachtens gestatten“ [Geheimes Hausarchiv].
Die Minister erhielten aus verschiedenen Quellen einen bunten Strauß von
Schilderungen intimer, teilweise despotischer und durchwegs negativer Verhaltens-
weisen des Königs. Zusammen mit den Informationen der Regierung über die Kor-
respondenz des Königs, über Schulden, groteske Geldbeschaffungsaktionen, zahlrei-
che handschriftliche Befehle und Tagebuchaufzeichnungen bildeten sie die Grund-