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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Jahresfeier am 15. Mai 2004
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Häfner, Heinz: Ein unzurechtnungsfähiger (?) König an einem Wendepunkt deutscher Geschichte - Ludwig II. von Bayern
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0037
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15. Mai 2004 | 49

nachdem ihm niemand Gift besorgt hatte. Dr. v. Gudden scheint versucht zu haben,
ihn zurückzuhalten, der König hat sich dessen erwehrt, Dr. v. Gudden gewürgt und
unterWasser gedrückt.
Ludwig hatte mit der psychiatrischen Internierung auf Schloß Berg das
Schicksal seines Bruders vor Augen, der mit em paar Irrenpflegern seit vielen Jahren
eine Vita minima im Schloß Fürstenried unter Aufsicht desselben Arztes führte. Ein
schlimmerer Absturz vom bayerischen Königsthron und aus der majestätischen Fik-
tion des absoluten Herrschers in prachtvollen Schlössern in die klägliche Existenz
eines von Irrenwärtern bewachten Geisteskranken in Einzelhaft ist kaum vorstellbar.
„Der Selbstmord könne ebenso aus der Aufregung über die Einsetzung der Regentschaft aus
der - damals angenommenen - Geistestörung hervorgegangen sein, besondern wenn man
bedenke, dass die Wirkung des Sturzes bei dem Größenwahn des Königs eine ungeheure gewe-
sen sein müsse“, sagte Graf zu Ortenburg im Untersuchungausschuß des Reichstags
am 14. 6. 1886 [W. Wöbking, 1986, S. 369], Bedenkt man die Rolle des Psychiaters
v. Gudden, der für den tatsächlich geisteskranken Bruder Prinz Otto ärztlich verant-
wortlich war, der die angebliche Geisteskrankheit, die Absetzung, Entmündigung
und Internierung Ludwigs II. entscheidend mit verantwortete, die Botschaft über-
brachte und die Verwahrung des Königs leiten sollte, so wird zumindest nachvoll-
ziehbar, daß der König von seiner Suizidabsicht nicht Abstand nahm, um das Leben
v. Guddens zu schonen. Die mehrfach angestellte Überlegung, wenn der König nicht
geisteskrank gewesen sei, dann habe er em Verbrechen an v. Gudden begangen, führ-
te stets zur Bestärkung der exculpierenden Diagnose Geisteskrankheit. Aber als Alter-
native ist sie zu kurz gedacht. Die Annahme einer in voller Schuldfähigkeit began-
genen Tötungshandlung ist auch ohne Psychose unwahrscheinlich.
War die Diagnose richtig?
Nach dem Tod des Königs und v. Guddens hat der bayerische Reichstag bereits am
14. 6. beraten. Das Ergebnis wurde im Landtag am 26. 6. 1886 verhandelt.
Staatsminister von Lutz vertrat die Richtigkeit des Handelns mit Nachdruck.
Der Gutachter Grashey sprach von „vollster Evidenz der Diagnose Paranoia“.
Grasheys Kollege Hagen diagnostizierte jedoch eine „andere Abartigkeit“: „ein
Gemisch von Verrücktheit, moralischem Irresein und Narrheit“. Er habe dem Gutachten
nur zugestimmt, weil er „nicht den Schein eines Mangels an Übereinstimmung aufkommen
lassen wollte“. Der Assistenzart Dr. Müller wußte nicht, was diese Diagnose besage
und diagnostizierte nur „moralischen Irrsinn“.
Greift man die Kriterien der Diagnose „Paranoia“ im Gutachten auf:
1. genetische Belastung mit Schizophrenie (als Risikofaktor), 2. Halluzinationen,
3. paranoider Wahn, 4. Geistesschwäche,
so entsprechen sie annähernd jenen der heutigen Diagnose „paranoide Schi-
zophrenie“, die von der Mehrzahl der später erschienenen Fachpublikationen so
übernommen wurde.
Wir werden die Stichhaltigkeit der Erfüllung dieser Kriterien kurz diskutieren.
1: Die Risikoziffern bei familiärer Belastung mit Schizophrenie betragen nach
Metaanalysen [Hirsch u.Weinberger, 2003] 7,3% bei Geschwistern und 2,4% bei
 
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