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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Jahresfeier am 15. Mai 2004
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Häfner, Heinz: Ein unzurechtnungsfähiger (?) König an einem Wendepunkt deutscher Geschichte - Ludwig II. von Bayern
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0038
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50 | JAHRESFEIER

Tanten. Diese Raten dürften annähernd auch zu jener Zeit gegolten haben, nach-
dem es keine sicheren Hinweise einer Veränderung der Erkrankungshäufigkeit an
Schizophrenie seither gibt [H. Häfner, 2000]. Nehmen wir an, sowohl Otto - was
unwahrscheinlich ist - als auch Tante Alexandra hätten beide an Schizophrenie gelit-
ten, so kämen wir für Ludwig auf eine genetische Risikorate von etwa 10%. Aller-
dings finden sich unter Angehörigen schizophren Erkrankter in Anteilen von
10-20% - abhängig von der diagnostischen Schwelle - nichtpsychotische Störun-
gen, bspw. Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses und mitunter weiterer kogniti-
ver Funktionen, Beeinträchtigung der interpersonellen und sozialen Kompetenz
und leichte Denkstörungen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß bei Ludwig II. solche
„schizoiden“ oder schizotypen Persönlichkeitszüge lebenslang vorlagen. Hinweise
auf lebenslange Gedächtnismängel oder andere kognitive Defizite finden sich aller-
dings nicht.
Einige überaus sorgfältige, wenn auch mit der großen Unsicherheit retrospek-
tiver Diagnosen über Jahrhunderte belastete genealogische Analysen der Familie
Wittelsbach kamen zu extrem hohen (z.B. 98 % I) Belastungswerten für Ludwig II.
Das Problem dieser Studien ist jedoch, daß sie überwiegend von einem einzigen ver-
erbbaren Risiko psychischer Krankheit ausgehen und einen einfach mendelnden
Erbgang unterstellen. In diesen Studien - unter Vernachlässigung der Bedeutung von
Umweltfaktoren - werden zwei grundlegende Ergebnisse moderner Genetik über-
sehen: a) Die Vererbung verschiedener psychischer Krankheiten - und die histo-
rischen Berichte müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß außer Schizophrenie,
affektiven Psychosen und nicht vererblicher progressiver Paralyse sowie alkoholbe-
dingten Psychosen auch entzündliche Krankheiten des Gehirns in die Kategorie
„psychische Krankheiten“ eingegangen sind — kann nicht als ein gemeinsamer Erb-
gang behandelt werden.
b) Die affektiven und schizophrenen Psychosen sind komplex vererbte Krank-
heiten, die nicht auf ein Hauptgen sondern auf eine größere Zahl von Risikogenen
zurückgehen, von denen alle bisher bekannten weniger als 3 % Beitrag zur Heredität
leisten [Maier, 2005, Häfner, 2005].
2: Selbstgespräche und das Hören von Schritten oder Worten - ohne je einen
Inhalt zu vermitteln —, die andere nicht wahrgenommen haben, von den Gutachtern
als Beleg für Halluzinationen genannt, sind keine typischen Merkmale von Hallu-
zinationen und sicher nicht von schizophrenietypischen Halluzinationen.
Das scheint wenigstens dem Assistenzart Dr. Müller klar gewesen zu sein, wenn
er davon spricht, die Gutachter hätten an allen Ecken und Enden nach Halluzina-
tionen gesucht.
3: Auch die Konstruktion eines paranoiden Wahns ist nicht nachvollziehbar.
Die Aussage, Ludwig habe eine Koalition von königstreuen Vasallen sammeln
wollen, um sich über seine Feinde unterrichten zu lassen, ist für Herrscher aller Zei-
ten nicht ungewöhnlich. Der Kammerdiener Hornig berichtete dazu, der König
habe nach den Attentaten auf Bismarck, Wilhelm I. und den Zaren Furcht vor Atten-
taten entwickelt. Auch das „paranoide“ Symptom „Verschwörungsangst“ wird durch
einen Artikel der „Vossischen Zeitung“ vom 28.5.1886 in ein lebensnahes Licht
 
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