Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

DOI Kapitel:
III. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses: Das WIN-Kolleg
DOI Kapitel:
2. Forschungsschwerpunkt: Kulturelle Grundlagen der Europäischen Einigung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0272
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
284 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES

untergründige Bezüge bestehenbleiben. Pavlina Rychterova erörtert im Rahmen des
von ihr bearbeiteten Teilprojektes - auf der Grundlage eines soziologischen bzw.
sozialgeschichtlichen Ansatzes - den Status und die Funktion der Frömmigkeit als
einer Form der symbolischen Erschließung der Welt, näherhin als einer der Strategi-
en der kulturell vermittelten Entschärfung der Kontingenzerfahrung. Als zentraler,
jedoch kritisch betrachteter Begriff wird in diesem Zusammenhang der des Charis-
mas eingeführt. Gefragt wird nach einer charismatischen Legitimation der welter-
schließenden Konstrukte, die im Rekurs auf die göttliche Offenbarung kommum-
zierbar gemacht werden. Dies geschieht durch die - bis zur kritischen Umformulie-
rung reichende - symbolische Deutung des wissenschaftlich-theologischen, bzw.
scholastischen Diskurses (beispielsweise in den Visionen der heiligen Birgitta von
Schweden), durch die Aufnahme des theologischen Diskurses und seine Einführung
in die Frömmigkeitspraxis der Zeit. Exemplarisch hierfür wird das Verständnis und
die Auffassung der sinnlichen Erfahrung mit Blick auf die Wandlungen untersucht,
denen dieser Bereich im theologischen, mystischen und katechetischen Schrifttum
des Spätmittelalters unterliegt. Damit ist eng die Frage nach der visuellen Wahrneh-
mung verbunden: Es werden Fragen nach der Rolle der visuellen Wahrnehmung in
der symbolischen Erkenntnis, d. h. in der symbolischen Rekonstruktion der Welt
gestellt; in diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der bildende Künste in der
mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis untersucht. Das ‘geoffenbarte’ Wissen steht
dabei symbolisch über jedem anderen „Wissen“; es bedarf keiner sekundären,
diskursiven Begründung, muß aber (ambivalent seinem Wesen nach) mit dem Wis-
sen übereinstimmen, das auf der sinnlich fundierten Erfahrungserkenntnis beruht.
Die Vision eines charismatisch legitimierten Auserwählten stellt in ihrem Inhalt wie
auch in der Form eine symbolische Vergegenwärtigung des Ganzen aufgrund der
deklarierten Kommunikation mit dem transzendenten Ursprung alles Wissens dar
und kommuniziert zugleich die universalisierte Dimension der Rationalität, indem
sie sich dem wissenschaftlich-theologischen Diskurs in ihrer Begrifflichkeit anpaßt.
Dies gilt jedoch nicht nur für visionäre und mystische Zeugnisse, sondern auch für
die Hagiographie im allgemeinen. Die Viten einzelner Heiliger kann man als pro-
grammatische Schriften ansehen, in denen die auf den Leistungen der Sinnlichkeit
beruhende Erkenntnis einerseits und die Offenbarung andererseits in Einklang
gebracht werden sollen.
Betrachtet man die mittelalterliche Frömmigkeitspraxis unter dieser Perspektive,
eröffnet sich eine neue Forschungsperspektive: Wenn — im Sinn der erkenntnislei-
tenden These des Projektes — begriffliches und symbolisches Denken keine alterna-
tiven, einander geschichtlich ablösenden Formen der Rationalität sind, sondern die
universalisierte Rationalität immer innerhalb der aufs Ganze zielenden symbolisch-
analogischen Rationalität vollzogen wird, lassen sich nicht nur die aus anderen For-
schungsperspektiven überwundenen Konzepte von Eliten- und Laien- (bzw.Volks-)
Frömmigkeit neu definieren, sondern auch unter neuen Prämissen die Frömmigkeit
und ihre Auffassung bei den Professionellen untersuchen. Die Frömmigkeitspraxis
wird dabei als eine der Strategien betrachtet, die dem universalisierten Denken den
Rückgriff auf evident oberste Begriffe und Sätze ermöglichen sollen, mit anderen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften