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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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von Bose, Herbert: Jahresfeier am 5. Juni 2010
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Sellin, Volker: Volker Sellin hält den Festvortrag: „Herrscher und Helden“
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0035
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5. Juni 2010 I 51

Alexander III. wagte es offensichtlich nicht, Skobelev zur Rechenschaft zu ziehen.
Stattdessen empfing er ihn jetzt zu einem zweistündigen Gespräch. In diplomati-
schen Kreisen war die Auffassung verbreitet, wenn der Zar den eigenwilligen Gene-
ral maßregle, werde der seinen Abschied nehmen und mit einem Kommando von
Freischärlern, wie einst Garibaldi die Sizilianer und Neapolitaner gegen ihren König,
so die slawischen Völker des Balkans zum Kampf gegen die türkische und die öster-
reichisch-ungarische Herrschaft aufwiegeln. Das durfte der Zar keinesfalls riskieren.
Ob der strukturelle Konflikt zwischen Herrscher und Volksheld irgendwann
offen ausgebrochen wäre, läßt sich nicht entscheiden, denn nur wenige Monate nach
dem Empfang durch den Zaren starb Skobelev im Alter von knapp neununddreißig
Jahren in einem Moskauer Bordell an einem Herzanfall. Einige behaupteten, er sei
einem Mordanschlag Bismarcks zum Opfer gefallen. Andere glaubten, der Zar habe
ihn vergiften lassen, weil der General auf den Sturz der Romanovs hingearbeitet
habe. Daß Skobelev nach der Macht gestrebt habe, ist genauso wenig belegt wie em
Attentat, aber es ist bezeichnend, daß er von Zeitgenossen als eine Bedrohung für
den Frieden und die Autokratie wahrgenommen wurde. Offensichtlich wurden ihm
Führungseigenschaften zugeschrieben, die viele beim Zaren vermißten. Im Zeitalter
des erstarkenden Nationalismus konnte die Monarchie leicht an Glaubwürdigkeit
einbüßen, wenn sie sich gegenüber den nationalen Erwartungen der Gesellschaft
verschloß. Insofern war Skobelevs Popularität em klares Warnsignal für den Zaren.
Am Tag seiner Beisetzung verglich Michail Katkov ihn in einem Leitartikel der
nationalistischen Moskovskie Vedomosti mit einem russischen bogatyr‘13, einem Helden
der Sage, und 1904 wurde er im Russischen Biographischen Lexikon als weit-
blickender Vorkämpfer des nach Bismarcks Entlassung geschlossenen russisch-fran-
zösischen Bündnisses und als „wahrhaftiger, treu ergebener und echt russischer
Kriegsmann gefeiert, der nur vorgeprescht sei, um dem Herrscher und Rußland,
soweit möglich, noch wirksamer zu dienen“14.
Paul von Hindenburg war schon seit drei Jahren im Ruhestand, als der Erste
Weltkrieg ausbrach13. Seine Reaktivierung verdankte er dem überraschenden Einfall
von zwei russischen Armeen in Ostpreußen im August 1914. Der Oberbefehlshaber
der dort operierenden achten Armee, Generaloberst von Prittwitz und Gaffron,
fühlte sich der russischen Übermacht nicht gewachsen und ordnete daher den
Rückzug hinter die Weichsel an. Daraufhin wurde er mitsamt seinem Generalstabs-
chef abberufen. Zu dessen Nachfolger wurde Erich Ludendorff bestimmt, der sich
soeben bei der Einnahme Lüttichs ausgezeichnet hatte. Das Oberkommando der
achten Armee wollte man ihm allerdings nicht übertragen, weil er nach den preußi-

13 Katkov, Michail N, Sobranie peredovodych statej moskovskich vedomostej, Moskva 1898,
Nr. 178,28.6.1882, S. 330.
14 Gejsman, P. /Bogdanov, A.: Skobelev, Michail Dmitrievic, in: Russkij Biograficeskij Slovar1,
Sabaneev-Smyslov, S.-Peterburg 1904, S. 582.
13 Zu Hindenburg vgl. neuerdings: Pyta, Wolfram, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern
und Hitler, München 2007.
 
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