54 | JAHRESFEIER
Abb. 9
Exemplarisch-Entrückte, das tote Kapital des Klassischen, wird damit verdrängt
durch das Konzept der Abstammung.7
Der Kult der Dichter wird in Russland von Riten begleitet, die an den
Gedächtnistagen vollzogen werden. Dazu gehört die einer Aktualisierung gleich-
kommende Zelebrierung der Sterbestunde Puskins in seiner zum Museum erhobe-
nen Petersburger Wohnung, die alljährlich unter großer Beteiligung einer tatsächlich
trauernden Bevölkerung (in und vor dem Haus) am 10. Februar in beträchtlicher
Kälte wiederholt wird. Dazu gehört die Denkmalserrichtung, die den Dichter ent-
rückt und gleichzeitig als sichtbares, berührbares Zeichen heranrückt. Auch die
erwähnten rituellen Gedächtnisfeiern sind von dieser Ambivalenz geprägt. Die
Beschwörung der Vergangenheit gewinnt als Gedächtnishandlung eine magische
Dimension, in der das rein Zeremonielle aufgehoben scheint.
II.
Was aber hat es mit dem Text auf sich, der wie kaum ein anderer russischer dichte-
rischer Text Bildungs- und Volksgut zugleich geworden ist? Und der bis heute zu
immer neuen Eektüren auffordert, die aus noch uninterpretierten Details oder bis-
her unbeachteten semantischen Konstellationen gänzlich neue Interpretationsange-
bote entwickeln. Formalistische, strukturalistische, psychoanalytische, dekonstrukti-
7 Zur Puskin-Verehrung in Konkurrenz zur enthusiastischen Heine-Rezeption in Russland, vgl.
Renate Lachmann, „Puskin und Heine“, in: Heine-Jahrbuch 51 (2012), S. 53—85.
Abb. 9
Exemplarisch-Entrückte, das tote Kapital des Klassischen, wird damit verdrängt
durch das Konzept der Abstammung.7
Der Kult der Dichter wird in Russland von Riten begleitet, die an den
Gedächtnistagen vollzogen werden. Dazu gehört die einer Aktualisierung gleich-
kommende Zelebrierung der Sterbestunde Puskins in seiner zum Museum erhobe-
nen Petersburger Wohnung, die alljährlich unter großer Beteiligung einer tatsächlich
trauernden Bevölkerung (in und vor dem Haus) am 10. Februar in beträchtlicher
Kälte wiederholt wird. Dazu gehört die Denkmalserrichtung, die den Dichter ent-
rückt und gleichzeitig als sichtbares, berührbares Zeichen heranrückt. Auch die
erwähnten rituellen Gedächtnisfeiern sind von dieser Ambivalenz geprägt. Die
Beschwörung der Vergangenheit gewinnt als Gedächtnishandlung eine magische
Dimension, in der das rein Zeremonielle aufgehoben scheint.
II.
Was aber hat es mit dem Text auf sich, der wie kaum ein anderer russischer dichte-
rischer Text Bildungs- und Volksgut zugleich geworden ist? Und der bis heute zu
immer neuen Eektüren auffordert, die aus noch uninterpretierten Details oder bis-
her unbeachteten semantischen Konstellationen gänzlich neue Interpretationsange-
bote entwickeln. Formalistische, strukturalistische, psychoanalytische, dekonstrukti-
7 Zur Puskin-Verehrung in Konkurrenz zur enthusiastischen Heine-Rezeption in Russland, vgl.
Renate Lachmann, „Puskin und Heine“, in: Heine-Jahrbuch 51 (2012), S. 53—85.