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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0036
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12. Mai 2012

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vistische und schlicht ‘realistische4 Lektüren halten sich die Waage. Komposition,
Strophik, Genre, Sujetfügung, Charaktere, Gesellschaftsporträtierung, die verborge-
nen erotischen oder poetologischen Bedeutungen sind Gegenstände dieser Lek-
türen, ebenso wie die Frage, wo der Text darstellt und erzählt und wo er über sich
selbst reflektiert.
Puskin nennt Eugen Onegin im Untertitel einen ‘Roman inVersen’, wobei er
sich der Tatsache bewusst ist, dass es sich um eine Zwittergattung handelt. Mit dem
Romanhaften verbindet sich im Genrebewusstsein der Puskinzeit die Abenteuer-
prosa des 18. Jahrhunderts zum einen und die noch nicht aus der Mode geratene
Prosa der Empfindsamkeit. Das Versmäßige wiederum knüpft einerseits an die hohe
Versdichtung des Klassizismus an - an das Heldenepos und das komische Epos - und
lässt sich andererseits mit einer durchaus noch anschlussfähigen Spielart des Epischen
in Verbindung bringen, dem (subjektiven) byronistischen Poem. Puskin, der poeto-
logisch hellwache Dichter, kondensiert, destilliert aus den veralteten wie den modi-
schen Formen ein vielschichtiges Poem, in dem die Freiheit des Romans und die
Bindung durch dieVersfügung zusammengeführt werden: es sind 8 Kapitel mit je 50
Strophen. Puskin stattet die Strophe mit 14Verszeilen in vierhebigen Jamben aus,
wobei die regelmäßige Abfolge der Reimschemata: Wechselreim, Paarreim, um-
armender Reim, Paarreim, streng eingehalten wird.
Die letzten zwei Zeilen einer Strophe sind durch eine epigrammatische Poin-
tenstruktur bestimmt. Es ist eine Strophik, die nicht nur mit einem komplexen
Reimschema aufwartet, sondern männliche und weibliche Reime semantisch poin-
tiert einsetzt und das im Reimen zusammengefiihrte Wortmaterial mit überraschen-
den Konnotationen ausstattet. Puskin erhoffte sich von seiner Strophe, dass sie ihn als
seine Erfindung überleben möge. (Sie ging als Onegin-Strophe in dieVerskunst ein
und ist weiterhin in Gebrauch, selbst bei englisch schreibenden Dichtern der Gegen-
wart.8
Ebensowenig wie ein Versroman der Gattungskonvention entsprach und als
Hybridisierung verstanden wurde, entsprach der Vierzehnzeiler den Gepflogenhei-
ten der Reimkunst. Puskin spielt einerseits mit der Tasso-Oktave, die er merklich
überschreitet, und andererseits mit dem Sonett, dessen Quartett-Terzett-Ordnung er
verlässt, oder: eine Kombination aus Shakespeare- Sonett und petrarkistischem
Sonett.9 Das jambische, mit variierenden Ikten zu lesende Metrum folgt den proso-
dischen Eigenschaften des Russischen so genau, dass manche Zeilen Prosa-Charak-
ter annehmen. (Abb. 10)10
Der Bindung durch das Schema zum Trotz entwickelt die Strophe einen unge-
zwungenen Erzählton, erlaubt lyrische Abschweifungen einzubauen. Das ermöglicht

8 Vikram Seth, The Golden Gate, 1986; Diana Bürgin, Richard BurgintA Life in Verse, 1989
9 Zu Puskins Sonett-Kunst vgL Erika Greber, „Das Sonett als Gattung des Wortflechtens“, in: E. G.,
Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 554—626.
10 Hier ein Strophenbeispiel in Umschrift, daneben der kyrillische Text. Die deutsche Übersetzung
stammt von Rolf-Dieter Keil: Alexander Puschkin. Jeugenij Onegin. Roman in Versen, Giessen
1980. In der Folge wird aus dieser Übersetzung zitiert. Zur englischen Version später.
 
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