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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0038
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12. Mai 2012

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Komponenten, den Puskin im Text selbst mit Ausdrücken wie (verbindungslos,
unverbunden) kommentiert, ist ein weiterer Aspekt des Gleitens und Schweifens und
betont die Freiheit des Romans. Gleichwohl ist es eine metrifizierte Freiheit.
Bedeutsam für die Ausrichtung des Versromans ist der Entwurf der Haupt-
personen (Tatjana, Onegin und Lenskij), sie werden als Lesende und Schreibende
eingeführt. Und ihre literarischen Produkte, ihre Briefe, werden vom Erzähler kom-
mentiert. Die Formeln der Empfindsamkeit, die Tatjanas Brief an Onegin bestim-
men, verweisen auf französische Quellen, Rousseaus Nouvelle Heloise in erster Linie.
Die empfindsamen Topoi des Briefes rücken Tatjana in die Reihe ihrer literarischen
Liebesleidgenossinnen Clarissa, Julie, Delphine.
Puskin hat in Eugen Onegin eine Reihe von Verfahren erprobt, die den weite-
ren Gang der russischen Literatur nachhaltig geprägt haben: Zitat, Parodie und
Selbstkommentar sowie Verfahren, die das Schreiben selbst zum Gegenstand haben.
(Diese Verfahren haben ihrerseits eine auf Sternes Tristrain Shandy und The Sentimen-
tal Journey zurückgehende Tradition, auf die sich Puskin ausdrücklich bezieht.) Sein
Versroman ist trotz seiner vielschichtigen parodistischen Anlage mit seinen gelehrten
und literarischen Anspielungen durchaus ein von einer breiten Leserschaft konsu-
mierbarer Text. Dazu trägt zum einen der leicht nachzuahmende Versrhythmus bei,
dessen Raffinement keine Schwierigkeit bereitet, zum andern lädt die Melancholie
des erzählten Liebesmisslingens zu empathischer Reaktion ein.
Die zeitgenössische Kritik hat den Versroman als „Enzyklopädie des russischen
Lebens“ der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, bezeichnet. Diese Charakteristik bezog
sich in erster Linie auf Puskins Beschreibungen der Petersburger Aristokratie, des
Landadels, der Gesellschaftsformen und -normen. Ein Puskins Genauigkeit bestäti-
gendes Wissen liefern historische Texte, die, wenn auch aus anderer Perspektive,
Auskunft geben über die Gepflogenheiten der Petersburger und Moskauer westlich
orientierten Aristokratie, die sich von denen des Landadels krass unterschieden. Aus
Texten dieser Art wird man über die Konventionen belehrt, die für gesellschaftliche
Veranstaltungen, insbesondere den Ball, Geltung hatten, und welche die Umstände
verständlich machen, die zur Einführung des Duells und zu dessen Stellung im rus-
sischen Ehrenkodex geführt haben.11
In Eugen Onegin ist Puskin zweifellos als Literat, nicht als Historiker am Werk.
Tatjana, die Leserin empfindsamer Romane, Lenskij, der romantische Schwärmer,
Onegin, der Petersburger Dandy, der Jeremy Bentham und Adam Smith liest und
Kant zur Seite legt, sind literarische Helden, die durch ihre Lektüren charakterisiert
werden, ebenso wie die erzählte Handlung literarische Quellen verarbeitet und eine
literarische Enzyklopädie Gestalt gewinnen lässt. Entscheidend dabei ist, dass der
Autor/Erzähler diese literarische Fundierung stets selbst zur Sprache bringt. D. h. er
kommentiert seinen Text. Damit entsteht im Text ein Text über den Text.

Jurij Lotman hat in seinem Kommentar zu PuskinsVersroman, Roman Puskina „Evgenij Onegin“:
kommentarij, Leningrad 1980, historische Quellen herangezogen, und damit Puskins Subtexte
aufgedeckt, vgl. auch seine Monographie Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte, übers, von Gennadi
Kagan, Köln, Weimar, Wien 1997.
 
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