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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0039
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JAHRESFEIER

Nach der Zurückweisung durch Tatjana wird Onegin von einer Lesemanie
ergriffen: wahllos liest er literarische, historische, philosophische, medizinische
Werke: Gibbon, Rousseau, Manzoni, Herder, Nicolas Chamfort, Madame de Stael,
den Biologen Bichat, den Mediziner Simon Tissot, die Frühaufklärer Pierre Bayle
und Fontenelle. Er liest die Journale, in denen sein Schöpfer, Puskin, verurteilt wird,
und vertieft sich in den Text, dessen Held er ist. Trotz der literarischen Orchestrie-
rung mit Autorennamen erzählt Puskin eine Liebesleid-Geschichte (die der auf
Empfindsamkeit eingestellte Teil der russischen Leserschaft für das eigentliche Sujet
des Romans hält). Gleichwohl ist Puskins Sentimentalismus-Demontage nicht zu
überlesen. Zumal Tatjana in der Begegnung mit Werken anderen intellektuellen und
ästhetischen Zuschnitts den Sentimentalismus als Herzensmode zu durchschauen
beginnt. In der Bibliothek Onegins vertieft sie sich in die Lektüre seiner Bücher und
es heißt: (7.XXI.14) „Und eine andere Welt tat sich vor ihr auf“. Sie erahnt, litera-
risch unterwiesen, das Literarische ihres Liebesobjekts, die lebensweltliche Substanz-
losigkeit Onegins:
(7.XXIV,9—14) „Was ist er nun?/ Imitation nur,/ Ein Moskauer in Harolds
Plaid,/ Ein leerer Wahn, ein Interpret/Von angelesener Konfusion nur,/ Ein Mode-
wörter-Dictionnär?./Vielleicht nur Parodie, nicht mehr?“ Diese Emanzipation von
der Empfindsamkeit hat Tatjana vielen der ihr nachfolgenden Romanheldinnen der
europäischen Literatur voraus.
Auch Lenskij, der vom Studium in Göttingen zurückgekehrte romantisieren-
de Poet und Verliebte mit schulterlangen schwarzen Locken, ist eine literarische
Figur. Wenn Lenskij in dem Duell, zu dem er Onegin, seinen vermeintlichen Riva-
len und Beleidiger seiner Ehre, gefordert hat, seinen Tod findet, so ist dies zugleich
romantisches Relikt und Verabschiedung der Romantik. Ironisch legt Puskin deren
Spuren frei, wenn er Lenskij vor dem Duell Schiller lesen lässt, der in Russland
romantisch gelesen wurde.
Das romantikskeptische Dandytum Onegins, für dessen Gemütsverfassung der
englische „spleen“ mit russisch „chandra“, Grille, und der französische „ennui“ mit
„skuka“, Langeweile, übersetzt werden, und die unromantischen mondänen Beschäf-
tigungen des Dandys, denen der Erzähler mit sarkastischer Sympathie begegnet,
gewinnen die Oberhand. Statt der Philosophie des deutschen Idealismus, die er
wenig attraktiv findet, beschäftigt sich Onegin mit Werken zur Ökonomie und
Gesellschaftstheorie (auch dies macht ihn zum Anti-Romantiker). Doch gilt hier
auch ein Gegenprinzip, das weder auf die Wirklichkeit (der Dinge, der Gesellschaft)
noch auf Ökonomie setzt und die Dandy-Theatralik der Selbststilisierungen aufhebt:
es ist das des Traums. Die Nähe des Traums zu Melancholie und süßer Langeweile, die
Lust am dämmernden Vergessen erscheinen als strukturell bedeutsame Momente.
Die dennoch dominierende parodistische Anlage des Werks, von der die Rede
war, öffnet das Genre für immer weitere Drehungen der Spirale, in die alle Meinun-
gen über Welt und Gesellschaft hineingezogen werden und entgleiten. Parodie und
Elegisches, ja Melancholisches können sich in dieser Spiralbewegung verbünden.
Weggleiten und Abschweifen sind Grundbewegungen des gesamten Textes, in dem
Ornamente der Ruhelosigkeit entstehen und eine Semantik des Unsteten beibehal-
 
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