12. Mai 2012
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ten wird. Der Autor/Erzähler nimmt am Ende des Versromans Abschied von seinem
Leser, seinem seltsamen Gefährten Onegin und von seinem Werk. Gerade hier wird
der selbstreflexive, poetologische Ton noch einmal deutlich: (8. L, 8—14) „Wie viele
Tage flohn schon fort,/ Seit mir das junge BildTatjanens/ Mit dem Onegins traum-
haft blind/ Zum erstenmal erschienen sind —/ Die Freiheitsweite des Romanes/ Sah
ich im Zauberglasvisier/ Recht unklar damals nur vor mir.“ Die Entstehung des Tex-
tes aus dem Traum, ein Motiv aus dem Anfang des Romans, verbindet sich mit dem
der Wahrsagerei, die sich des magischen Kristalls bedient, der Autor ist ein Träumer
und Zauberer, dem ein Werk des nur durch die metrische Gestalt gebändigten
Schweifens gelungen ist. Dies ist zweifellos ein romantisches Ende, das durch eine in
der allerletzten Strophe anklingende Apostrophe noch eine weitere Bedeutung
erhält. Diese Strophe gilt den Freunden, die nach dem fehlgeschlagenen Dekabri-
stenaufstand von 1825 hingerichtet oder nach Sibirien verbannt wurden: (8.,LI, 9-
14) „Glückselig, wer, solang noch dauert/ Das Fest des Lebens, es verlässt,/ Den
Kelch nicht austrinkt bis zum Rest,/ Aufs Ende des Romans nicht lauert,/ Und
Abschied nehmen kann im Nu,/Wie ich es von Onegin tu“. (Keil)12
III.
Die eingangs skizzierte Geschichte der Kanonisierung Puskins ist allerdings unvoll-
ständig, denn es gab noch eine russlandexterne literarische Szenerie: nämlich die der
russischen Emigration. Die Puskin-Rezeption der 20er und 30er Jahre von Seiten
der russischen Emigrationsschriftsteller in Paris war merkwürdig negativ. Puskin
wurde wegen Formvollendung und Inhaltsarmut abgelehnt. Dieser Tendenz tritt nun
Vladimir Nabokov, damals noch unbekannter Schriftsteller im Berliner Exil, vehe-
ment entgegen. Auf zweifache Weise arbeitet er an Puskins Kanonisierung als Autor
der Weltliteratur: zum einen als dessen Übersetzer und Interpret, zum andern, indem
er Puskin als Person und Dichter zu seinem lebenslangen Leitbild macht. 1937 hält
er in Paris vor einer skeptischen und interessierten Zuhörerschaft, zu der auch James
Joyce sich gesellte13, eine glänzende französisch verfasste Rede mit dem Titel
„Pouchkine, ou le vrai et le vraisemblable“. Die Rede galt poetologischen Proble-
men, insonderheit solchen der Übersetzung lyrischer Texte und der spezifischen
Schwierigkeit, Puskin ins Französische zu transponieren.
Nabokov selbst wurde als unrussisch, als Ausländer in der eigenen Literatur
gesehen. Die Pariser Emigrationskritik anerkannte zwar seine Meisterschaft, ver-
urteilte aber seinen Ästhetizismus. Es war die schockierende Neuheit im Stil, in der
Personenkonzeption, in der Sujetfügung, die irritierten. So habe noch niemand auf
russisch geschrieben, heißt es in einer Besprechung, womit auch gemeint war, dass
12 Hier zum Vergleich die Übersetzung von Ulrich Busch „Wohl dem, der auf dem Festgelände/
Den Becher nicht zur Neige leert/Und früh zurück ins Dunkel kehrt,/der den Roman noch vor
dem Ende/beiseite legt und schnell und leicht wie ich im Augenblick, entweicht“, aus Eugen
Onegin, Zürich 1981
13 Julian Moynahan, “Nabokov and Joyce”, in: VE Aleksandrov (Hg.), The Garland Companion to
Vladimir Nabokov. New Jork, London 1995, S. 433—444.
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ten wird. Der Autor/Erzähler nimmt am Ende des Versromans Abschied von seinem
Leser, seinem seltsamen Gefährten Onegin und von seinem Werk. Gerade hier wird
der selbstreflexive, poetologische Ton noch einmal deutlich: (8. L, 8—14) „Wie viele
Tage flohn schon fort,/ Seit mir das junge BildTatjanens/ Mit dem Onegins traum-
haft blind/ Zum erstenmal erschienen sind —/ Die Freiheitsweite des Romanes/ Sah
ich im Zauberglasvisier/ Recht unklar damals nur vor mir.“ Die Entstehung des Tex-
tes aus dem Traum, ein Motiv aus dem Anfang des Romans, verbindet sich mit dem
der Wahrsagerei, die sich des magischen Kristalls bedient, der Autor ist ein Träumer
und Zauberer, dem ein Werk des nur durch die metrische Gestalt gebändigten
Schweifens gelungen ist. Dies ist zweifellos ein romantisches Ende, das durch eine in
der allerletzten Strophe anklingende Apostrophe noch eine weitere Bedeutung
erhält. Diese Strophe gilt den Freunden, die nach dem fehlgeschlagenen Dekabri-
stenaufstand von 1825 hingerichtet oder nach Sibirien verbannt wurden: (8.,LI, 9-
14) „Glückselig, wer, solang noch dauert/ Das Fest des Lebens, es verlässt,/ Den
Kelch nicht austrinkt bis zum Rest,/ Aufs Ende des Romans nicht lauert,/ Und
Abschied nehmen kann im Nu,/Wie ich es von Onegin tu“. (Keil)12
III.
Die eingangs skizzierte Geschichte der Kanonisierung Puskins ist allerdings unvoll-
ständig, denn es gab noch eine russlandexterne literarische Szenerie: nämlich die der
russischen Emigration. Die Puskin-Rezeption der 20er und 30er Jahre von Seiten
der russischen Emigrationsschriftsteller in Paris war merkwürdig negativ. Puskin
wurde wegen Formvollendung und Inhaltsarmut abgelehnt. Dieser Tendenz tritt nun
Vladimir Nabokov, damals noch unbekannter Schriftsteller im Berliner Exil, vehe-
ment entgegen. Auf zweifache Weise arbeitet er an Puskins Kanonisierung als Autor
der Weltliteratur: zum einen als dessen Übersetzer und Interpret, zum andern, indem
er Puskin als Person und Dichter zu seinem lebenslangen Leitbild macht. 1937 hält
er in Paris vor einer skeptischen und interessierten Zuhörerschaft, zu der auch James
Joyce sich gesellte13, eine glänzende französisch verfasste Rede mit dem Titel
„Pouchkine, ou le vrai et le vraisemblable“. Die Rede galt poetologischen Proble-
men, insonderheit solchen der Übersetzung lyrischer Texte und der spezifischen
Schwierigkeit, Puskin ins Französische zu transponieren.
Nabokov selbst wurde als unrussisch, als Ausländer in der eigenen Literatur
gesehen. Die Pariser Emigrationskritik anerkannte zwar seine Meisterschaft, ver-
urteilte aber seinen Ästhetizismus. Es war die schockierende Neuheit im Stil, in der
Personenkonzeption, in der Sujetfügung, die irritierten. So habe noch niemand auf
russisch geschrieben, heißt es in einer Besprechung, womit auch gemeint war, dass
12 Hier zum Vergleich die Übersetzung von Ulrich Busch „Wohl dem, der auf dem Festgelände/
Den Becher nicht zur Neige leert/Und früh zurück ins Dunkel kehrt,/der den Roman noch vor
dem Ende/beiseite legt und schnell und leicht wie ich im Augenblick, entweicht“, aus Eugen
Onegin, Zürich 1981
13 Julian Moynahan, “Nabokov and Joyce”, in: VE Aleksandrov (Hg.), The Garland Companion to
Vladimir Nabokov. New Jork, London 1995, S. 433—444.