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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0041
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JAHRESFEIER

noch niemand so zu schreiben gewagt hat. Dasselbe hatte man im 19. Jahrhundert
gegen Puskin ins Feld geführt. „Sirin“, Nabokovs Pseudonym der 20er Berliner
Jahre, provoziert aber auch die Gegenposition, die das Russische in seinen Werken
herausstellt. Damit entstand eine Interpretationslinie, die auch bezüglich seiner eng-
lischen Werke beibehalten wird und in Lolita oder Ada orArdour gerade die russischen
hintergründigen Anspielungen herausarbeitet. Es bedarf russistischer Kenntnisse,
um die poetischen Verstellungen und Kryptogramme aufzudecken, in denen die
russische Literatur und die russische Nabokov-Kindheit — oft nostalgisch — sich ver-
bergen.14
Die Kontroverse zum Thema Nabokov als ‘unrussischer1, Nabokov als zutiefst
‘russischer’Autor scheint beendet, womit auch eine Verbindung zur Emigrantenkul-
tur hergestellt worden ist. Allerdings bleiben die Einordnungsprobleme bestehen: ist
Nabokov Symbolist, Avantgardist, Neorealist, Postmodernist? Das Spiel mit Autor-
schaft und textueller Selbstbespiegelung, die Verfahren der Zersplitterung einer Text-
struktur in andere überraschende Zusammenhänge, die Rolle des Widerspiels mime-
tischer, realistischer und transmimetischer Verfahren, die Detailbeschreibungslust, die
den Konkreta zu plastischer Gegenwart verhilft, und eine stellenweise phantastische
Schreibweise, die das Unwahrscheinliche, Groteske und Paradoxe einkalkuliert,
lassen unentschiedene Lektüren zu.
Das Puskin-Erbe wird von Nabokov nachdrücklich beansprucht: sein Gesamt-
werk partizipiert motivisch, thematisch, stilistisch an dessen Vermächtnis. Den seman-
tischen Raum des Eugen Onegin scheint er nie verlassen zu haben. Wie Puskin, der
in seinem eigenen Werk als „Puskin“, „Aleksandr“ oder „Ich“ erscheint, lässt Nabo-
kov in zahlreichen Anagrammen, wie etwaVivian Darkbloom oder Adam von Libri-
kov in seinen Werken auf sich schließen. Die Themen: Autorschaft, schreibender
Held, Doppelgängerei, Mystifikation, Nachruhm verbinden ihn ebenso mit dem
Vorläufer wie seine Formexperimente. Dar (Die Gabe), The Gift, der letzte russisch
geschriebene Roman, der 1937 in Berlin entstand, enthält ganze in jambischen Tetra-
metern verfasste Abschnitte und suggeriert damit eine Genreverwandtschaft mit
Puskins Romanexperiment. Die Gabe ist durch denselben Enzyklopädismus und das
metafiktionale Moment bestimmt wie Eugen Onegin. „The Gift’s central character is
Russian literature“ lautet Nabokovs Kommentar zur englischen Übersetzung seines
Romans. „Not since Evgenii Onegin has a major Russian novel contained such a
profüsion of literary discussion, allusions and writers’ characteristics“ heißt es in dem
ersten kritischen Artikel zum Roman.15 Das Enzyklopädische im Sinne der implizi-
ten oder expliziten Revokation der literarischen Tradition in eine literarische
Gegenwart bestimmt Die Gabe ebenso wie Pale Fire oder Ada or Ardour. Im Schrei-
ben alles Erfahrene und Gelesene wachhalten — darin steckt ein auch andernorts
deutlich hervortretender Unsterblichkeitswunsch. Das Metatextuelle, Metafiktionale,
Autoreferentielle, das ironisch auf den Schreibvorgang, die Fiktionalität, Beliebigkeit

14 Z.B. Alfred Appel, The Annotated Lolita, New York 1970
15 Simon Karlinsky, „Vladimir Nabokovs Novel Dar as a Work of Literary Criticism. A Structural
Analysis“, Slavic and East European Journal 7 (1963), S. 284-290.
 
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