Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2012
DOI Artikel:
Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0042
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
12. Mai 2012

61

des Einfalls verweist, pendelt das verschwiegen Pathetische dieser Beschwörungs-
geste aus. Die Anzahl der stilisierten, parodierten, invertierten fremden Texte ist
ebenso umfangreich wie die Methoden ihrer Amalgamierung facettenreich.
Ein 1936 russisch geschriebener Roman Otcajanie (Die Verzweiflung) von
Nabokov selbst ins Englische übertragen, bündelt die Themen: Schreiben, Autor-
schaft, Doppelgängerei, Mystifikation. Despair steht beispielhaft für den intertextuel-
len Artismus, der die russische und die sowjetische Literatur der 20er und 30er Jahre
verarbeitet, und er steht für das Mystifikations- und Autorschaftsthema. Es ist ein
Text, der zu postmoderner Lektüre geradezu auffordert. Nabokov lässt den Protago-
nisten des Romans, den Schreiber und Verbrecher Hermann Karlovitsch, wie übri-
gens die meisten seiner Helden, eine unbezwingliche Hybris ausstrahlen. Hermann,
dessen Name den des Haupthelden German aus Puskins phantastischer Novelle
Pique Dame rekapituliert (auch dieser zugleich Verbrecher und Schreiber), kündet
von seinem „schöpferischen Triumph“ und beschwört die „Unfehlbarkeit des
Schreibers“. Der Roman handelt von einer imaginären Doppelgängerei und dem
Phantasma einer Ähnlichkeit zwischen Unähnlichen, zugleich aber wird das poeto-
logische Problem der Mimesis umkreist. Mimesis erscheint hier als Mimikry, ein
Begriff, den der Schreiber/Held mit verwandten Begriffen wie Mystifikation,
Maskerade, Taschenspielertrick, Betrug, in seinen Text streut, womit das Verfahren
der poetologischen Selbstbespiegelung des Textes, die Puskin vorgeführt hat, von
Nabokov aufgenommen und weitergetrieben wird.
Auch zu Nabokovs Pale Fire von 1962 ergibt sich eine Nähe zu Puskin: der
Versdichtung und Prosakommentar verbindende Text erscheint in mancherlei Hin-
sicht als formales und semantisches Äquivalent zu dessen Versroman und Nabokovs
Kommentar dazu. Kinbote, der Held in Pale Fire, dessen monströser Kommentar zu
den vier Cantos des fiktiven Poeten John Shade als Selbstdarstellung eines geringe-
ren, ja lächerlichen Poeten ironisch stilisiert wird, ist gleichwohl ein ingeniöser
Schreiber, der in gewaltigen Abschweifungen eine phantastische russisch-europäische
Historiographie entwirft. Pale Fire ist zudem ein Verschlüsselungstext, in dem ästhe-
tische Ansichten und eine beißend groteske Schilderung amerikanischer Verhaltens-
weisen und Geschmacksspezifika durchaus den Autor Nabokov verraten, der
zugleich in Shade sein anderes, unnahbares poetisches Double entwirft. Nabokov
bzw. Kinbote ist ein spitzfindiger Versteckspieler, der in seinen Selbstkommentaren
als irreführender und triumphierender poeta doctus auftritt. Alle diese Verfahren lassen
sich in der Puskintradition verorten.
Nabokovs Kommentar zu seiner englischen Übersetzung von Eugen Onegin
(beides zum 165. Geburtstag Puskins 1963 erschienen)16, ein megalomaner, zwei-
tausend Seiten umfassender Text, ist neben Lolita sein umstrittenstes Werk. Der Kom-
16 Eugene Onegin. A Novel in Verse. (Übersetzung und Kommentar in 2 Bänden, 1964/75), Prince-
ton 1990. Zur deutschen Ausgabe der Werke Nabokovs gehören auch die Übersetzung der eng-
lischen Übersetzung des russischen Eugen Onegin sowie die Übersetzung des Nabokovschen
Kommentars: Alexander Puschkin, Eugen Onegin. Ein Versroman. Aus dem Russischen von Sabine
Baumann. Vorwort und Einleitung von Vladimir Nabokov; Vladimir Nabokov, Kommentar zu
Eugen Onegin. Aus dem Englischen von Sabine Baumann, 2 Bde, Frankfurt am Main, Basel 2009
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften