Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2012
DOI Artikel:
Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0043
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
62 | JAHRESFEIER

mentator überschreitet die Forderungen des Genres und beutet das zu Kommentie-
rende in allen Facetten aus. Es entsteht ein hoch gelehrter, glänzend recherchierter
Kommentar, detailbesessen, pedantisch, gespickt mit Kuriosa und Langatmigkeiten,
aber auch mit pointierten Belletrismen. Ein Text, der mit Abschweifungen, Einschü-
ben, Interpolationen, nostalgischen Rückblicken geradezu gesättigt ist. Auch darin
lehnt er sich an die Onegin-Struktur an.
Puskin ein für allemal zum nicht mehr zu überlesenden Bestandteil der ‘Welt-
literatur’ zu machen, ist das Ziel, das Nabokov vermittels des Kommentars und der
Übersetzung zu erreichen sucht. Nicht nur um die Integration des Puskinschen
Werks in die europäische Literatur geht es ihm, vielmehr ist es seine erklärte Absicht,
es den amerikanischen Lesern, die Dostoevskij-orientiert sind, als das eigentliche
russische literarische Erbe zu präsentieren. Dabei verfolgt er eine doppelte Strategie
der Information des amerikanischen Lesers: zum einen liefert er detaillierte
Erklärungen russischer Idiome, Bräuche, Begriffe, Namen, historischer und kulturel-
ler Fakten, die in Puskins Quasi-Gesellschaftsenzyklopädie figurieren; zum andern
verweist er wie ein intertextueller Detektiv auf die literarischen Quellen dieser
Lebens-und Gesellschaftsschilderung, wobei ihm in erster Linie an der Identifizie-
rung der westlichen gelegen ist. Nabokovs Onegin-Kommentar gilt zudem der
Struktur des Gesamtwerks, der Strophik, Metrik, dem Reim. Er verfolgt das Ziel, den
Versroman in einen europäischen Kontext zu integrieren und zieht just solche
Schreibweisen heran, an die er Puskin anknüpfen kann — wobei ihm seine um-
fassende Kenntnis der Weltliteratur zu gute kommt. Das spezifisch Russische, die
Russizität, besteht für ihn allein in der Sprache.
Nabokov sieht in Puskin, hier in Übereinstimmung mit der Forschung, den
Erneuerer der russischen Literatursprache und hat sich auch in diesem Punkt ver-
mutlich als Nachfolger verstanden. Denn nicht nur dem Russischen hat Nabokov
eine neue Prägung verliehen (einen, wie die positive Kritik sagt, ungehörten Klang
durch die Betonung der lautlichen und rhythmischen Eigenschaften), sondern er hat
auch dem Englischen ungeahnte stilistische Nuancen dazu gewonnen, z.B.
das Spielerische. Trotz dieser Voraussetzung erweist sich die Übersetzung des Eugen
Onegin als problematisch. Die englische Reproduktion der Onegin-Strophe, also
jener vierzehnzeiligen in jambischen Tetrametern gehaltenen Strophe mit regel-
mäßigem Reim hält Nabokov für unmöglich. Jede gereimte, äquimetrische Über-
setzung hätte das Original zerstört, hätte einen „schwachen Byron“ ergeben, (die
deutschen Übersetzungen, die das versuchen, erinnern eher an Wilhelm Busch). D. h.
Nabokov war der Meinung, dass Unterschiede in Prosodie, Reimbeständen, metri-
schen Konventionen zwischen dem Russischen und dem Englischen nicht zu über-
brücken seien. Diese Auffassung verwundert bei einem Autor, der von Beginn seines
Schaffens immer auch Übersetzer war, englische, deutsche, französische Texte ins
Russische, seine eigenen ins Englische transponierte und durchaus eine Art freie
Übersetzung anstrebte17. Stattdessen legt er mit der englischen Onegin-Version eine
17 Vgl. Die Untersuchung von Stanislav Shvabrin, Nabokov as Translator. The Multilingual Works of the
Russian Period, Los Angeles 2007.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften