25. Mai 2013
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tigkeit aus verschiedenen Zeitsichten bedacht werden. Hier beansprucht die Heidel-
berger Akademie in ihren Ursprüngen wie im aktuellen WIN-Programm eine Pio-
nierfunktion. Sie wird sich Elementarbegriffen unserer Gesellschaft neu widmen
müssen.
Gemeinwohl und Demokratie verlieren ein Stück ihres notwendigen Zusam-
menhalts. Das Mehrheitsergebnis von Wahlen und Abstimmungen ist nicht immer
Abbild der Summe der Individualinteressen. Kollektive Güter — wie allgemeiner
Frieden, Sicherheit in Sozialsystemen, lebensverträgliche Umwelt, Transparenz
gemeinsamer Entscheidungsfindung, angemessene Verschuldensgrenzen — brauchen
neue Begründungen.
Die Idee der Gleichheit und des Sozialen verkümmert, wenn wir nur noch
beobachten, dass es dem anderen besser gehe: er ist jünger, gesünder, begabter, rei-
cher, durchsetzungsfähiger, sportlicher, hat einen besseren Beruf oder eine bessere
Familie. Aus dieser Beobachtung der Verschiedenheit folgt für Wissenschaft und Aka-
demie eine Reflexion über die Gleichheit der Menschen in Freiheit, über die sinn-
stiftende Entdeckung vom selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Individu-
um, über die aufklärerische Forderung nach dem Mut zur individuellen Vernunft, die
freiheitsrechtliche Garantie, sich von anderen unterscheiden zu dürfen und die
jeweiligen Unterschiede stetig zu mehren.
Wir werden im Dialog zwischen bedachter Erfahrung und jugendlichem In-
Frage-Stellen den Gedanke der Freiheit, damit der Verantwortung und Schuld,
erneut überprüfen müssen. Die Erfahrung lehrt, dass wir uns immer wieder frei ent-
scheiden können und dafür verantwortlich sind. Wissenschaft, Kunst, Hoffen, das Ver-
trauen und Lieben sind nicht kausalgesetzlich zu erklären. Der Mensch — daran erin-
nert unsere Jaspers—Forschung — ist grundsätzlich mehr, als er von sich wissen kann.
Freiheit ist vielleicht weder beweisbar noch wiederlegbar, ist aber eine Setzung der
praktischen Vernunft und Voraussetzung für Selbstbestimmung und Würde des Men-
schen. Der Verzicht auf subjektive Zurechnung eines schädigenden Verhaltens würde
die Personalität des Menschen in Frage stellen, das Verhältnis von Welt und Mensch
in die Orientierungslosigkeit entlassen. Verantwortlichkeit ist keine Eigenschaft des
Gehirns, sondern Voraussetzung der Freiheit. Wir wissen, dass der Mensch, der uns
begegnet, anders handelt und denkt als wir selbst. Wir sind durch fremde Groß-
zügigkeit beschämt, von der Niedertracht eines anderen enttäuscht, im Vertrauen auf
seine Verlässlichkeit verletzt.
Die Grundbedingung des Vertrauens, eine Schlüsselkategorie von Freiheit und
demokratischer Staatlichkeit, setzt Verhaltensmaßstäbe jenseits des Rechts voraus -
des ehrbaren Kaufmanns, des anständigen Bürgers, des Amtsethos und des Ehren-
amts. Sie ist Bedingung des Geldes, unseres Wirtschaftssystems. Dieses Vertrauen ist
neu zu festigen. Hier kann die Akademie im Ehrenamt, in respektvoller, wohlbe-
dachter Distanz zu Wirtschaft und Politik, Erkenntnisse vermitteln.
Die Vernunft und ihre sprachliche Vermittlung ist Grundbedingung der Wis-
senschaft, die Begründbarkeit eines wissenschaftlichen Ergebnisses Bedingung seiner
Anerkennung. Die Renaissance und die Aufklärung anerkennen nicht Berechtigung
und Richtigkeit kraft Autorität, sondern kraft Rationalität. Die Rechtsordnung setzt
57
tigkeit aus verschiedenen Zeitsichten bedacht werden. Hier beansprucht die Heidel-
berger Akademie in ihren Ursprüngen wie im aktuellen WIN-Programm eine Pio-
nierfunktion. Sie wird sich Elementarbegriffen unserer Gesellschaft neu widmen
müssen.
Gemeinwohl und Demokratie verlieren ein Stück ihres notwendigen Zusam-
menhalts. Das Mehrheitsergebnis von Wahlen und Abstimmungen ist nicht immer
Abbild der Summe der Individualinteressen. Kollektive Güter — wie allgemeiner
Frieden, Sicherheit in Sozialsystemen, lebensverträgliche Umwelt, Transparenz
gemeinsamer Entscheidungsfindung, angemessene Verschuldensgrenzen — brauchen
neue Begründungen.
Die Idee der Gleichheit und des Sozialen verkümmert, wenn wir nur noch
beobachten, dass es dem anderen besser gehe: er ist jünger, gesünder, begabter, rei-
cher, durchsetzungsfähiger, sportlicher, hat einen besseren Beruf oder eine bessere
Familie. Aus dieser Beobachtung der Verschiedenheit folgt für Wissenschaft und Aka-
demie eine Reflexion über die Gleichheit der Menschen in Freiheit, über die sinn-
stiftende Entdeckung vom selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Individu-
um, über die aufklärerische Forderung nach dem Mut zur individuellen Vernunft, die
freiheitsrechtliche Garantie, sich von anderen unterscheiden zu dürfen und die
jeweiligen Unterschiede stetig zu mehren.
Wir werden im Dialog zwischen bedachter Erfahrung und jugendlichem In-
Frage-Stellen den Gedanke der Freiheit, damit der Verantwortung und Schuld,
erneut überprüfen müssen. Die Erfahrung lehrt, dass wir uns immer wieder frei ent-
scheiden können und dafür verantwortlich sind. Wissenschaft, Kunst, Hoffen, das Ver-
trauen und Lieben sind nicht kausalgesetzlich zu erklären. Der Mensch — daran erin-
nert unsere Jaspers—Forschung — ist grundsätzlich mehr, als er von sich wissen kann.
Freiheit ist vielleicht weder beweisbar noch wiederlegbar, ist aber eine Setzung der
praktischen Vernunft und Voraussetzung für Selbstbestimmung und Würde des Men-
schen. Der Verzicht auf subjektive Zurechnung eines schädigenden Verhaltens würde
die Personalität des Menschen in Frage stellen, das Verhältnis von Welt und Mensch
in die Orientierungslosigkeit entlassen. Verantwortlichkeit ist keine Eigenschaft des
Gehirns, sondern Voraussetzung der Freiheit. Wir wissen, dass der Mensch, der uns
begegnet, anders handelt und denkt als wir selbst. Wir sind durch fremde Groß-
zügigkeit beschämt, von der Niedertracht eines anderen enttäuscht, im Vertrauen auf
seine Verlässlichkeit verletzt.
Die Grundbedingung des Vertrauens, eine Schlüsselkategorie von Freiheit und
demokratischer Staatlichkeit, setzt Verhaltensmaßstäbe jenseits des Rechts voraus -
des ehrbaren Kaufmanns, des anständigen Bürgers, des Amtsethos und des Ehren-
amts. Sie ist Bedingung des Geldes, unseres Wirtschaftssystems. Dieses Vertrauen ist
neu zu festigen. Hier kann die Akademie im Ehrenamt, in respektvoller, wohlbe-
dachter Distanz zu Wirtschaft und Politik, Erkenntnisse vermitteln.
Die Vernunft und ihre sprachliche Vermittlung ist Grundbedingung der Wis-
senschaft, die Begründbarkeit eines wissenschaftlichen Ergebnisses Bedingung seiner
Anerkennung. Die Renaissance und die Aufklärung anerkennen nicht Berechtigung
und Richtigkeit kraft Autorität, sondern kraft Rationalität. Die Rechtsordnung setzt