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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Veranstaltungen
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Mitarbeitervortragsreihe. „Wir forschen. Für Sie“
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Welter, Rüdiger: All You Need Is Love: sagt Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0119
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142 | VERANSTALTUNGEN

reflektierten Leidenschaftlichkeit beim Erfassen der Natur bewegt sich Goethe schon
auf der Spur neuster Erkenntnisse: Die Leidenschaft nämlich für das Forschen,
Erkennen, Wissensammeln wurde von dem 2011 in Tübingen verstorbenen Hirn-
forscher Valentin von Braitenberg — recht goethisch übrigens — als ,,Hirnlust“
bezeichnet; sie hat, so vermutet die jüngere Hirnforschung, ihren Sitz im mensch-
lichen Gehirn ganz nah bei der Sexlust und ist ob dieser Nachbarschaft auf jeden Fall
etwas sehr, sehr Altes. Kein Wunder also, dass auch bei Meister Faust Wissens- und
Eroberungsdrang, kognitiver und erotischer Trieb handlungskonstitutiv gekoppelt
sind.
„Die Leidenschaft der Erkenntnis [...] führt [...] auch zur Erkenntnis der Lei-
denschaft”, wie es der Heidelberger Nikolaus Sombart so schön formuliert hat, und
damit machen wir den Schritt von der „Hirnlust“ zur „Sexlust“, zur Macht des Eros.
Auch der Eros ist ‘erfindungsreich’, eine Lebensmacht, die „vieles Unmögliche mög-
lich“ macht, indem sie Bedenken nicht gelten lässt. Amor vincit omnia. „Die Liebe
befreit den Menschen, indem sie ihn bindet.“ Die Bindung an jemanden (oder
etwas) außerhalb unserer selbst macht uns frei von der Fixierung auf uns selbst und
unsere ‘selbstischen’ Interessen. Das ist die Leichtigkeit der Liebe, die Schwerelosig-
keit, das Gefühl des Schwebens. Doch die Schwerkraft wirkt auch hier: Hätte Goethe
seinen Werther und dessen Lotte ins Eheglück entlassen, es wäre wohl recht ernüch-
ternd ausgefallen. Unbestechlich wie die Französischen Moralisten (Chamfort, La
Fontaine, La Rochefoucauld, Montesquieu, Pascal, Rivarol, Vauvenargues u.a.) oder
der von ihm verehrte Lichtenberg beobachtet und zerlegt er nicht nur die gepredigte
Moral, sondern, gern auch im Kontrast dazu, die wirklich gelebte Moral, die tatsäch-
lich herrschenden Sitten. Als ‘Realist’, wie Goethe sich selber sah, analysiert er mit
unerschrockenem (aber dennoch nicht lieblosen) Blick die alltagsgrauen Transfor-
mationen seliger Zweisamkeit und kommentiert sie ebenso schonungslos wie geist-
reich-ironisch. Ein handschriftliches Heiratsgesuch des Weimarer Zeichenlehrers
Ferdinand Jagemann glossierte Goethe so: „Möge dessen Liebe und Leidenschaft
nicht so blass werden wie seine Tinte!”
Nicht nur als „Geschichte einer Ehe“ heute noch ein Lesevergnügen sind ‘Die
Wahlverwandtschaften’von 1 809. Goethes quasi „experimenteller“ Roman schildert
die schrittweise Auflösung einer Ehe entsprechend einer naturwissenschaftlichen
Modellvorstellung seiner Zeit, der von der unentrinnbaren Wirkungsmacht „anzie-
hender“ und „abstoßender“ Kräfte. Unterliegen die Protagonisten diesem Kräfte-
spiel mit geradezu naturgesetzlicher Notwendigkeit, oder können sie sich - durch
„Entsagung“ — sittlich über die Naturnotwendigkeit erheben? Können sie nicht. —
Der Landadelige Eduard und seine Frau Charlotte setzen ihre Ehe — für beide ist es
schon die zweite! — aufs gefährliche Spiel, als sie Eduards alten Freund Otto und
Charlottes Nichte Ottilie auf ihr Gut einladen: Eduard verliebt sich in Ottilie, Char-
lotte in Otto, und umgekehrt. Goethes Versuchsanordnung funktioniert. Bei einem
der Male des „bei Gelegenheit“ noch gepflegten ehelichen Beischlafs ist Eduard
gedanklich bei Ottilie, Charlotte denkt an Otto, und die Frucht dieses „doppelten
Ehebruchs“ ist ein Sohn, der Otto und Ottilie aus den Gesichtern geschnitten
scheint — und natürlich ganz bald umkommen muss. Ottilie hungert sich märtyre-
 
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