26. Juni 2013
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rinnenhaft zu Tode, Eduard, dem es nicht gelungen ist, im Krieg den Heldentod zu
sterben, geht vor lauter Kummer ein, und so sind sie, wie Romeo und Julia, endlich
im Tode vereint. Was wegen des unaufhebbaren Antagonismus von leidenschaftlicher
Natur und sittlicher Freiheit, Sexus und Entsagung, ein Stück weit wie eine grie-
chische Tragödie anmutet, ist, nicht zuletzt auch in der Parodie romantischer Dich-
tung am reichlich kitschigen Schluss, zugleich ein sozialkritischer Zeitroman. Eduard
und Charlotte haben den eigentlichen Bezug zum Landleben, seinen natürlichen
Rhythmen und Gegebenheiten, längst verloren; an die Stelle pragmatischer Nähe zu
ihren Existenzgrundlagen ist ästhetisierende Distanz getreten. Je weniger sie ihr eige-
nes naturhaft-elementares Begehren zu bezähmen vermögen, desto hartnäckiger
betreiben sie die Domestizierung und Sublimierung der sie umgebenden Natur.
Nach und nach, und über die Grenzen des finanziellen Ruins hinaus, verwandeln sie
ihre Ländereien in einen empfindsam-romantischen Themenpark, statt sie den öko-
nomischen Erfordernissen der Gegenwart anzupassen. In diesem dekadenten Begin-
nen spiegeln sich Realitätsverlust und Orientierungslosigkeit des Landadels im
Übergang zur postfeudalen Lebensform. Nach dem Zusammenbruch der alten Ord-
nungen in der napoleonischen Ära ist das „goldene Zeitalter“ des Feudalismus auch
als bewohntes Gesamtkunstwerk nicht mehr zu bewahren. Eduard fehlt der Mut zur
Moderne, Charlotte, die Otto dann doch ‘entsagt’, der Mut zur Liebe - man halte
gegen dieses kläglich-schwächliche Geschlecht um 1800, dessen romantisch-religiös-
schwärmerische Weltflucht Goethe so sehr missfiel, den „immer strebenden“
Renaissancemenschen Faust!
Goethes eigene „Beziehungserfahrungen”, zwischen Käthchen Schönkopf und
Ulrike von Levetzow, sind häufig genug analysiert worden. Charlotte von Stein ver-
sichert er: „Deiner Liebe gewiss zu sein ersetzt mir die Sonne”, kann sich aber trotz
dieser wärmenden Gewissheit gewisser egoistischer Eifersüchteleien und Besitzan-
sprüche nicht entschlagen: Nachdem Charlotte einen kleinen Ausflug in Gesell-
schaft, aber ohne ihn unternommen hat, schreibt er ihr: „Ich gönne und wünsche
Ihnen immer Freude, und dass Sie eine kleine Lust ohne mich genießen macht mir
einen Tag üblen Humor. Dass so viel Selbstisches in der Liebe ist, und doch, was wär'
sie ohne das!“ Liebendes Begehren und Besitzdenken, das Streben nach Kontrolle
und absoluter Vereinnahmung, sind nicht leicht zu trennen, teilen unmöglich — siehe
Werther. Und wenn nun Werther und Lotte doch vor den Traualtar getreten wären,
hätte das ein Happyend bedeutet? Hören wir Goethe: „Eine Liebe kann wohl im Nu
entstehen, und jede echte Neigung muss irgend einmal gleich dem Blitze plötzlich
aufgeflammt sein; — aber wer wird sich denn gleich heiraten wenn man sich liebt?
Liebe ist etwas Ideelles, Heiraten etwas Reelles, und nie verwechselt man ungestraft
das Ideelle mit dem Reellen. Solch ein wichtiger Lebensschritt will allseitig überlegt
sein und längere Zeit hindurch, ob auch alle individuellen Beziehungen, wenigstens
die meisten, zusammenpassen.“ Soviel Nüchternheit wird nur noch übertroffen
durch die schwäbische Bauernweisheit „Liebe vergeht, Hektar besteht“. Nun
stammt das längere Goethezitat aus dem Herbst 1823, der Zeit nicht lang (genug)
nach seiner Abweisung durch Ulrike von Levetzow, die als „Goethes letzte Liebe“ in
die Literaturgeschichte eingegangen ist.
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rinnenhaft zu Tode, Eduard, dem es nicht gelungen ist, im Krieg den Heldentod zu
sterben, geht vor lauter Kummer ein, und so sind sie, wie Romeo und Julia, endlich
im Tode vereint. Was wegen des unaufhebbaren Antagonismus von leidenschaftlicher
Natur und sittlicher Freiheit, Sexus und Entsagung, ein Stück weit wie eine grie-
chische Tragödie anmutet, ist, nicht zuletzt auch in der Parodie romantischer Dich-
tung am reichlich kitschigen Schluss, zugleich ein sozialkritischer Zeitroman. Eduard
und Charlotte haben den eigentlichen Bezug zum Landleben, seinen natürlichen
Rhythmen und Gegebenheiten, längst verloren; an die Stelle pragmatischer Nähe zu
ihren Existenzgrundlagen ist ästhetisierende Distanz getreten. Je weniger sie ihr eige-
nes naturhaft-elementares Begehren zu bezähmen vermögen, desto hartnäckiger
betreiben sie die Domestizierung und Sublimierung der sie umgebenden Natur.
Nach und nach, und über die Grenzen des finanziellen Ruins hinaus, verwandeln sie
ihre Ländereien in einen empfindsam-romantischen Themenpark, statt sie den öko-
nomischen Erfordernissen der Gegenwart anzupassen. In diesem dekadenten Begin-
nen spiegeln sich Realitätsverlust und Orientierungslosigkeit des Landadels im
Übergang zur postfeudalen Lebensform. Nach dem Zusammenbruch der alten Ord-
nungen in der napoleonischen Ära ist das „goldene Zeitalter“ des Feudalismus auch
als bewohntes Gesamtkunstwerk nicht mehr zu bewahren. Eduard fehlt der Mut zur
Moderne, Charlotte, die Otto dann doch ‘entsagt’, der Mut zur Liebe - man halte
gegen dieses kläglich-schwächliche Geschlecht um 1800, dessen romantisch-religiös-
schwärmerische Weltflucht Goethe so sehr missfiel, den „immer strebenden“
Renaissancemenschen Faust!
Goethes eigene „Beziehungserfahrungen”, zwischen Käthchen Schönkopf und
Ulrike von Levetzow, sind häufig genug analysiert worden. Charlotte von Stein ver-
sichert er: „Deiner Liebe gewiss zu sein ersetzt mir die Sonne”, kann sich aber trotz
dieser wärmenden Gewissheit gewisser egoistischer Eifersüchteleien und Besitzan-
sprüche nicht entschlagen: Nachdem Charlotte einen kleinen Ausflug in Gesell-
schaft, aber ohne ihn unternommen hat, schreibt er ihr: „Ich gönne und wünsche
Ihnen immer Freude, und dass Sie eine kleine Lust ohne mich genießen macht mir
einen Tag üblen Humor. Dass so viel Selbstisches in der Liebe ist, und doch, was wär'
sie ohne das!“ Liebendes Begehren und Besitzdenken, das Streben nach Kontrolle
und absoluter Vereinnahmung, sind nicht leicht zu trennen, teilen unmöglich — siehe
Werther. Und wenn nun Werther und Lotte doch vor den Traualtar getreten wären,
hätte das ein Happyend bedeutet? Hören wir Goethe: „Eine Liebe kann wohl im Nu
entstehen, und jede echte Neigung muss irgend einmal gleich dem Blitze plötzlich
aufgeflammt sein; — aber wer wird sich denn gleich heiraten wenn man sich liebt?
Liebe ist etwas Ideelles, Heiraten etwas Reelles, und nie verwechselt man ungestraft
das Ideelle mit dem Reellen. Solch ein wichtiger Lebensschritt will allseitig überlegt
sein und längere Zeit hindurch, ob auch alle individuellen Beziehungen, wenigstens
die meisten, zusammenpassen.“ Soviel Nüchternheit wird nur noch übertroffen
durch die schwäbische Bauernweisheit „Liebe vergeht, Hektar besteht“. Nun
stammt das längere Goethezitat aus dem Herbst 1823, der Zeit nicht lang (genug)
nach seiner Abweisung durch Ulrike von Levetzow, die als „Goethes letzte Liebe“ in
die Literaturgeschichte eingegangen ist.