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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI chapter:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Maul, Stefan M.: Politikberatung im Alten Orient oder Von Sinn und Unsinn der Prognostik
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0043
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Stefan Maul

de zu sein, durch die Auswertung von scheinbaren Unregelmäßigkeiten astraler
Bewegungen Gefahren aber auch günstige Gelegenheiten so rechtzeitig wahrzu-
nehmen, dass man einerseits ein drohendes Unheil umgehen und andererseits
auch von der Chance eines gebotenen kairos profitieren konnte.
Zahlreiche keilschriftliche Traktate, namentlich aus dem ersten vorchristli-
chen Jahrtausend zeigen, dass die mesopotamischen Zeichendeuter bestrebt wa-
ren, ihre Erkenntnisse über die Aussagekraft von dem äußeren Erscheinungsbild
der Leber zu verbinden mit ihrem Wissen über die Bedeutung der Bewegungen
am gestirnten Himmel. Ihre noch weitgehend unbekannten Überlegungen führ-
ten nicht nur dazu, dass die Leber in gewisser Weise als Emanation des Himmels
betrachtet und wie der Tierkreis in zwölf Segmente unterteilt wurde. Die meso-
potamischen Gelehrten sahen sich auch in der Lage, Zeichen der Leber gleich-
bedeutenden astralen und terrestrischen Zeichen zuzuordnen und damit die
Gesetzmäßigkeiten von der Dynamik des Weltgeschehens in unterschiedlichen
Medien offenzulegen. Sie sammelten zum besseren Verständnis dabei nicht nur
Zeichen, um auf Zukünftiges zu schließen, sondern betrachteten auch das zur Ge-
genwart gewordene Zukünftige, um in der Vergangenheit nach den zugehörigen,
möglicherweise übersehenen Zeichen Ausschau zu halten. In einem kühnen Vor-
haben sollten auch die über Jahrhunderte (mit Lücken vom 7. —1. Jahrhundert
v. Chr.) geführten sog. „astronomical diaries“ langfristig über das Netz kausaler
Zusammenhänge in der Welt genaueren Aufschluss geben. In diesen Dokumenten
wurde in Form von Jahresberichten nicht nur über astrale Zeichen und das Wet-
ter detailliert Rechenschaft abgelegt, sondern auch über die Preisentwicklung be-
stimmter wichtiger Normgüter; über Wasserstände; über als Zeichen eingestufte
terrestrische Vorkommnisse sowie über einschneidende zeitgeschichtliche Ereig-
nisse. Auf diese Weise wollte man Gesetzmäßigkeiten im Weltgeschehen ermitteln,
welche aufgrund der Kurzlebigkeit des Menschen eine einzige Generation nicht
mehr selbst überschauen kann, mit dem Ziel, diese Erkenntnisse für politisches
Handeln nutzbar zu machen. Im Dienste dieses Strebens entstand im Babylonien
des ersten vorchristlichen Jahrtausends auch die rechnende Astronomie, ein Zweig
babylonischer Wissenschaft, der bis heute fortbesteht.
Mit Hilfe der verschiedenen altorientalischen divinatorischen Verfahren sollte
erreicht werden, dass Gestalten und Handeln der für das Gemeinwesen Verant-
wortlichen stets in Harmonie blieb mit dem alles umfassenden Weltgeschehen,
welches den ganzen Kosmos beherrscht und dem sich der Mensch dauerhaft nicht
widersetzen kann.
In den Augen der umliegenden Kulturen, aber auch in der Selbstwahrneh-
mung Mesopotamiens schien der Erfolg der Zukunftswissenschaft angesichts der
dauerhaften dreitausendjährigen politischen und kulturellen Überlegenheit des
Zweistromlandes unbestreitbar zu sein. Die Einbettung der altorientalischen Divi-
nation in eine Art wissenschaftliches System, das strengen Regeln folgte und nach

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