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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maul, Stefan M.: Politikberatung im Alten Orient oder Von Sinn und Unsinn der Prognostik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0045
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Stefan Maul

Im neuassyrischen Reich des ersten vorchristlichen Jahrtausends hatte man das
Wesen der Zukunftsschau so perfekt organisiert, dass Meldungen über zeichenhaf-
te Vorkommnisse, vor allem astraler aber auch terrestrischer Natur, regelmäßig aus
dem gesamten Herrschaftsgebiet eingingen. Diese einander ergänzenden Berichte
wurden von einer Kommission, die man augenzwinkernd und ein wenig anachro-
nistisch als ,Zukunftsministerium4 bezeichnen könnte, gesammelt, abgeglichen,
auf Stimmigkeit überprüft und ausgewertet, bevor daraus resultierende politische
Maßnahmen beraten und eingeleitet wurden.
Obgleich aus dem Blickwinkel unseres Weltbildes die Grundlagen der pro-
gnostischen Evaluationsverfahren - wir müssen es hier in aller Deutlichkeit sagen
- vollkommen obsolet sind, erweisen sich die mesopotamischen Formen der poli-
tischen Entscheidungsfindung ohne Zweifel als erfolgreich, führten sie doch dazu,
dass die Kulturen des Zweistromlandes über einen Zeitraum von Jahrtausenden
den gesamten Vorderen Orient politisch und kulturell dominierten. So erscheint
es uns in dem gleichen Maße skandalös wie beunruhigend, dass ein nach unseren
eigenen Maßstäben durch und durch unsinniges Verfahren dauerhaften Erfolg ge-
währleistet haben soll.
Können Entscheidungen über politische und militärische Angelegenheiten,
die nicht von Vernunft, sondern von purem Aberglauben geleitet sind, dauerhaft
für Stabilität sorgen? - Wohl kaum. Lehrt doch schon der gesunde Menschenver-
stand ebenso wie ein kurzer Blick auf die Zeitgeschichte, dass jene letztlich törich-
ten Regime nicht von langer Dauer sind, die die Fähigkeit oder den Willen nicht
besitzen, durch eine umsichtige, vernunftgeleitete Politik zumindest mittelfristig
für Interessensausgleich innerhalb einer sich stetig wandelnden Gesellschaft zu
sorgen, um so Chaos und Zusammenbruch zu vermeiden.
Auf Schritt und Tritt strafen andererseits zahlreiche Quellen jene von Über-
legenheitsdiskursen und Denkfaulheit geleitete Ansicht Lügen, dass im alten Me-
sopotamien Wahrsager und politische Entscheidungsträger die Divination zwar
zielstrebig als Instrument politischer Einflussnahme eingesetzt, aber gleichzeitig
einander zuzwinkernd die Meinung geteilt hätten, mit den von ihnen nur in be-
trügerischer Absicht empfohlenen Mitteln sei ein Blick in die Zukunft in Wahrheit
gar nicht möglich.
Diesem bislang kaum diskutierten Widerspruch soll im folgenden unsere
Aufmerksamkeit gelten. Ich fasse meine Überlegungen in fünf Punkten zusam-
men:
1. In Orient und Okzident setzte man über Zeitalter hinweg Vertrauen in
Aussagekraft und Verlässlichkeit der mesopotamischen Wahrsagekünste, obgleich
diese fraglos auf Irrwegen des menschlichen Geistes beruhen und so auch nur
letztlich aus der Luft gegriffene Zukunftsbilder hervorbringen können.
Vorhersagen dieser Art sind keineswegs in der Lage, echte Einblicke in das
Kommende zu eröffnen. Doch gleichwohl vermögen sie, einem diffusen Erwar-

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