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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2015
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maul, Stefan M.: Politikberatung im Alten Orient oder Von Sinn und Unsinn der Prognostik
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https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0046
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II. Wissenschaftliche Vorträge

tungshorizont Struktur zu verleihen und eine amorphe Zukunft Gestalt anneh-
men zu lassen. Sie begrenzen die schier unendlichen Möglichkeiten, welche eine
unbekannte Zukunft bereithalten mag, und geben den Weg für zielorientiertes
Planen frei. Denn ganz unabhängig davon, wie sie zustande kam, zwingt eine all-
seits ernst genommene Zukunftsvision dazu, die gegenwärtige Lage neu zu über-
denken und zu entscheiden, ob das Vorhergesehene entschlossen angestrebt oder
aber verhindert werden soll. In diesem Sinne dürfen gerade die Wahrsagekünste als
Motor dafür angesehen werden, dass sich die altorientalische Gesellschaft immer
wieder als „zukunftsfähig“ erwies und - von Weissagungen geleitet - dafür sorgte,
dass Vorhaben inspiriert und ausgeführt wurden, mit denen man die Zukunft zu
meistern verstand.
Wir können somit nicht umhin, den zunächst vielleicht überraschenden
Schluss zu ziehen, dass es für Leistungsfähigkeit und Erfolg eines jeden beliebi-
gen prognostischen Verfahrens, sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart,
völlig unerheblich ist, ob es tatsächlich die Zukunft offenzulegen vermag, sofern
nur — so wie im Alten Orient — zwei Bedingungen erfüllt sind: Das Verfahren
darf zum einen sinnvolle Entscheidungen nicht auf Dauer oder zu einem großen
Teil verhindern, zum anderen sollte eine Mehrheit der jeweils meinungsbildenden
Kräfte ökonomische, politische, militärische und andere Erfolge in beachtlichem
Maß auf Vorteile zurückführen, die auf der Kenntnis jenes prognostischen Ver-
fahrens beruhen. Für die Wirkmacht einer Prognosetechnik ist deren Plausibilität
weitaus wichtiger als die Verlässlichkeit der mit ihrer Hilfe generierten Zukunfts-
entwürfe!
Die Wahrsager des Alten Orients waren sich angesichts der Komplexität ih-
rer Gedankengebäude der Fehleranfälligkeit ihrer Prognosen durchaus bewusst.
Allerdings erklärten sie, ohne die Prämissen ihrer Lehre grundsätzlich in Frage
zu stellen, in einer Art von Zirkelschluss unerwartete Ergebnisse immer wieder
mit der enormen Komplexität ihrer Erkenntnisverfahren. Alles, was prinzipielle
Zweifel weckte, konnten die Zeichendeuter so recht leicht entkräften. Darin un-
terscheiden sie sich freilich wenig von all jenen Ökonomen und Analysten, die mit
den ihnen zur Verfügung stehenden Methoden die fatalen Wirtschaftsentwicklun-
gen unserer eigenen jüngsten Vergangenheit mehrheitlich nicht voraussahen, doch
gleichwohl mit erneuten Prognosen die Wege bestimmen, welche aus der nicht
zuletzt von ihnen selbst heraufbeschworenen Krise herausführen sollen. Der ja
keineswegs selbstverständliche Sachverhalt, dass auch in unserer Gesellschaft eine
breite Mehrheit dem Rat dieser Finanzexperten dennoch ein ungebrochen gläu-
biges Vertrauen entgegenbringt, wird verständlicher machen, dass die von Cicero
formulierten Vorbehalte gegen die Wahrsagekünste nicht nur im Altertum weitge-
hend ungehört blieben.
2. Dem Nachteil, einen möglicherweise sinnvollen Plan nicht durchsetzen
zu können, weil die eruierten Zeichen dagegen sprechen, stehen die Vorteile ge-

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