Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI chapter:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Mittler, Barbara: Bezaubernde Berührung – Visuelles Gedächtnis in Chinas populären Medien, 1900 – 2000
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0061
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Barbara Mittler

oder Druck, deren „Realitätsnähe“ wesentlich geringer ist als im Falle von „doku-
mentarischer“ Fotografie. Indem so also keine „dokumentarische Evidenz“ gegeben
wird, aber auch, indem das zärtliche sich berührende Paar auf die eine oder andere
Weise durch Substution der Protagonisten „entschärft“ wird (etwa indem man In-
sekten, Kinder oder auch unschuldig konnotierte gleichgeschlechtliche Paare zeigt,
Abb. 12), wird Intimität auf immer neue Weise von der greifbaren Realität entfernt,
entmaterialisiert.
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich Darstellungen von Intimität
also signifikant verändert. Sie haben immer wieder neue Bedeutungen angenom-
men, normative Gebote akzeptiert und so die jeweils neue „Politik von Intimität“
reflektiert. Unter kommunistischer Herrschaft erscheint ein bestimmtes glückli-
ches Paar als Vorbild für alle: Das verheiratete Paar, das Zärtlichkeit nur um des
Glücks der Familie willen und damit, in der chinesischen Formel, der Gesellschaft
als Ganzes, praktiziert. Können wir also, durch das Prisma von Intimität und Zärt-
lichkeit und der Möglichkeiten das „glückliche Paar“ darzustellen, erkennen wie
Chinas Printmedien kontinuierlich die Realitäten, die waren, und die, die werden
sollten, geformt und beeinflusst haben? Die diachrone Schau auf Darstellungen
von Intimität seit den 1940er Jahren zeigt, dass das glückliche, zärtliche Paar zwar
in unterschiedlicherWeise in den 1940er, 60ern, 80ern und 2000ern erscheint, und
dass verschiedene Mechanismen der Entmaterialisierung von Intimität im Spiel
sind, dass aber die konkrete Darstellung von fassbarer sichtbarer Zärtlichkeit über
die Zeit stetig zunimmt, in einer Reprise der Entwicklung, die wir auch als Trend
zwischen den 1900 und 1930er Jahren ausmachen konnten - und zwar in einer
deutlichen Steigerung, weil seit den 1990er Jahren dieses zärtliche Paar durch die
Zunahme von fotografischen Darstellungen eine immer dokumentarischere, fak-
tischere und materiale Präsenz bekommt, die allerdings, bis zum heutigen Tag,
immer innerhalb genauer Eingrenzungen nur erscheint (und nur im Franchise
Magazine bis zum Akt selbst geht).
Amor bedrängt die, so heißt es bei Ovid, die nicht wollen, viel schlimmer und
wilder als die, die zugeben in seinem Dienst zu stehen. Die größte Gefahr liegt in
der Verneinung und der ihr immer innewohnenden Suggestion, und das ist auch
Teil der Politik, die Chinas eigene Zeitschriftenproduktion offensichtlich noch be-
stimmt. Deswegen wird die genussvolle Darstellung von Intimität hingenommen,
aber weiter unmissverständlich kontrapunktiert durch „richtige“ und „saubere“
Darstellungen von Intimität: sicherer ist dies, als nur zu suggerieren und so der
Fantasie freien Lauf zu lassen.
Gleichzeitig wird ein anderes Element über die Jahre immer stärker, das
sich neben die Varianten der Darstellung des glücklichen Paars gesellt und dieses
überspielt und damit die Möglichkeiten, Intimität im Akt des Lesens zu erfah-
ren, radikal weiter verändern: immer häufiger wird zärtliche Berührung nämlich
nicht mehr konkret dargestellt, sondern einfach nur noch evoziert, indem nämlich

61
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften