Festvortrag von Angelos Chaniotis
Antwort „Nicht schuldig“.46 Wenn aber der Gott die Schuld eines Menschen fest-
stellte, was passierte dann? Mnasistratos fragte, ob Kinyras Geld gestohlen hatte,
das unter dem Dach versteckt war.47 Was hätte er getan, wenn er erfahren sollte,
dass Mnasistratos sein Geld gestohlen hatte. Verlangte es zurück? Ging er mit dem
Orakelspruch bewaffnet vor Gericht? Griff er auf Selbstjustiz zurück? Schickte er
ein paar kräftige Männer zu Mnasistratos, um ihm eine Lehre zu erteilen? Meine
Vermutung ist, dass das Orakel in solchen Fällen nicht als Ort der Verurteilung,
sondern als Ort der Schlichtung funktionierte. Aus Zeitgründen kann ich nicht alle
Zeugnisse analysieren;48 ich fasse nur die wichtigsten Hinweise zusammen. Wenn
in der Antike das Opfer einer Unrechttat einen Verdacht, aber weder Zeugnisse
noch Beweise hatte, blieb ihm nur eine Möglichkeit: den Verdächtigen zu einem
Heiligtum zu laden und ihn aufzufordern, seine Unschuld eidlich zu bestätigen.49
Das ist ein oft belegtes Verfahren. Es gibt nun in den Dodona-Tafeln Hinweise da-
rauf, dass Kläger und Angeklagte bei der Orakelbefragung anwesend waren. Wenn
auf einer Tafel steht „wenn keiner von diesen Menschen Diebstahl begangen hat,
dann hol diese Tafel heraus“,50 so heißt das, dass die Verdächtigen dort waren.
Die Orakelbefragung ähnelte dann einem Unschuldseid. Wenn der Angeklag-
te schuldig war und Furcht vor den Göttern hatte, würde er sich durch Weigerung
zu erscheinen, selbst belasten. Wenn er schuldig war und die Götter nicht fürch-
tete, hätte er keine Bedenken dort zu erscheinen. Und wenn er reines Gewissen
hatte, entlastete er sich durch seine Anwesenheit. Nach diesem Szenario war die
Antwort der Götter immer die gleiche: „nicht schuldig“. Nur dadurch konnte ein
Konflikt beendet werden und Eintracht in die kleinen Gemeinden zurückkehren.
Ziel des Verfahrens war nicht die Verurteilung der Angeklagten - hierfür fehlte
dem Heiligtum jede Befugnis -, sondern die Götter zu Zeugen eines Konfliktes zu
machen. Wären sie auf die Angelegenheit erst aufmerksam, so würden sie früher
oder später den Schuldigen bestrafen.
Dass es auch um Bitten um Aufmerksamkeit geht, das belegen andere Texte.
Ein Mann schreibt. „Gott! Ich, Keraunos, bitte Dich bezüglich meines Hauses“
oder - wenn Keraunos kein Personenname ist - „Gott. In Sachen Donner. Ich bit-
te Dich bezüglich meines Hauses“.51 Gleich welche Übersetzung die richtige ist,
46 DVC 1593B: ovk airfioc;].
47 DVC 3169: civekXe\|/e Ktvvpac; Tibpyupiov tö MvaataT[pct]Tov tö and toü Öokoü toü hoi rät
OT£yai.
48 Ausführlicher: Chaniotis 2018a.
49 Chaniotis 2009b, 128; z. B. Babrius 2.
50 DVC 2222A: al Öe [K|Öelc; tovtcov KEKÄoßs, tovtovl
51 DVC 2653B: ö Oeoq Kspavvoc; Ösopfai] rot nsp rät; poiKiac; oder Kspawdc;- Ösopfai] rot nsp
rät; poiKiac;.
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Antwort „Nicht schuldig“.46 Wenn aber der Gott die Schuld eines Menschen fest-
stellte, was passierte dann? Mnasistratos fragte, ob Kinyras Geld gestohlen hatte,
das unter dem Dach versteckt war.47 Was hätte er getan, wenn er erfahren sollte,
dass Mnasistratos sein Geld gestohlen hatte. Verlangte es zurück? Ging er mit dem
Orakelspruch bewaffnet vor Gericht? Griff er auf Selbstjustiz zurück? Schickte er
ein paar kräftige Männer zu Mnasistratos, um ihm eine Lehre zu erteilen? Meine
Vermutung ist, dass das Orakel in solchen Fällen nicht als Ort der Verurteilung,
sondern als Ort der Schlichtung funktionierte. Aus Zeitgründen kann ich nicht alle
Zeugnisse analysieren;48 ich fasse nur die wichtigsten Hinweise zusammen. Wenn
in der Antike das Opfer einer Unrechttat einen Verdacht, aber weder Zeugnisse
noch Beweise hatte, blieb ihm nur eine Möglichkeit: den Verdächtigen zu einem
Heiligtum zu laden und ihn aufzufordern, seine Unschuld eidlich zu bestätigen.49
Das ist ein oft belegtes Verfahren. Es gibt nun in den Dodona-Tafeln Hinweise da-
rauf, dass Kläger und Angeklagte bei der Orakelbefragung anwesend waren. Wenn
auf einer Tafel steht „wenn keiner von diesen Menschen Diebstahl begangen hat,
dann hol diese Tafel heraus“,50 so heißt das, dass die Verdächtigen dort waren.
Die Orakelbefragung ähnelte dann einem Unschuldseid. Wenn der Angeklag-
te schuldig war und Furcht vor den Göttern hatte, würde er sich durch Weigerung
zu erscheinen, selbst belasten. Wenn er schuldig war und die Götter nicht fürch-
tete, hätte er keine Bedenken dort zu erscheinen. Und wenn er reines Gewissen
hatte, entlastete er sich durch seine Anwesenheit. Nach diesem Szenario war die
Antwort der Götter immer die gleiche: „nicht schuldig“. Nur dadurch konnte ein
Konflikt beendet werden und Eintracht in die kleinen Gemeinden zurückkehren.
Ziel des Verfahrens war nicht die Verurteilung der Angeklagten - hierfür fehlte
dem Heiligtum jede Befugnis -, sondern die Götter zu Zeugen eines Konfliktes zu
machen. Wären sie auf die Angelegenheit erst aufmerksam, so würden sie früher
oder später den Schuldigen bestrafen.
Dass es auch um Bitten um Aufmerksamkeit geht, das belegen andere Texte.
Ein Mann schreibt. „Gott! Ich, Keraunos, bitte Dich bezüglich meines Hauses“
oder - wenn Keraunos kein Personenname ist - „Gott. In Sachen Donner. Ich bit-
te Dich bezüglich meines Hauses“.51 Gleich welche Übersetzung die richtige ist,
46 DVC 1593B: ovk airfioc;].
47 DVC 3169: civekXe\|/e Ktvvpac; Tibpyupiov tö MvaataT[pct]Tov tö and toü Öokoü toü hoi rät
OT£yai.
48 Ausführlicher: Chaniotis 2018a.
49 Chaniotis 2009b, 128; z. B. Babrius 2.
50 DVC 2222A: al Öe [K|Öelc; tovtcov KEKÄoßs, tovtovl
51 DVC 2653B: ö Oeoq Kspavvoc; Ösopfai] rot nsp rät; poiKiac; oder Kspawdc;- Ösopfai] rot nsp
rät; poiKiac;.
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