Herfried Münkler
Das Problem der politischen Urteilskraft
Das Fach Politikwissenschaft hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten eine andere
Entwicklung genommen, als sie Peter Graf Kielmansegg bei der Veröffentlichung
seines Buchs über den Ersten Weltkrieg und danach vorgeschwebt haben dürfte.
Skepsis als Grunddisposition hat in ihr kaum noch Platz, denn sie, die Skepsis,
ist von einem Methodendesign aufgezehrt worden, das zu den hochschießenden
Hoffnungen und Erwartungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre grund-
sätzlich Distanz hält, das in seinem szientistischen Anspruch auf methodische
Überprüfbarkeit von Aussagen aber auch keinen Grund für skeptische Zurückhal-
tung bei der Betrachtung des Möglichen und Machbaren sieht. Das Fach ist durch
die Methoden der Soziologie und Ökonomie „kolonisiert“ worden, und die meis-
ten Fachvertreter legen bei der Ausbildung der Studierenden keinen Wert auf die
Schulung politischer Urteilskraft. Sie verstehen politikwissenschaftliche Seminare
nicht als einen Raum, in dem die Befähigung, Politik zu betreiben, zu beurteilen
und zu kommentieren, vermittelt wird, sondern sehen darin einen Trainingsplatz
für wissenschaftliche Analysen möglichst eng umrissener Politikfelder. Man könn-
te auch sagen: Im Prozess seiner Szientifizierung ist die Wissenschaft von der Po-
litik zunehmend zu einer Wissenschaft von Verwaltungsabläufen geworden, und
dabei ist der Zeithorizont, der dabei ins Blickfeld kommt, auf ein Jahrzehnt in die
Vergangenheit und eines in die Zukunft zusammengeschrumpft. Es dominiert die
Nahperspektive. Weitblick traut man sich schon aus methodischen Erwägungen
nicht zu.
Eine Folge dessen ist, dass die politische Ideengeschichte, der klassische Trai-
ningsplatz für die Entwicklung politischer Urteilskraft, in der Struktur politik-
wissenschaftlicher Institute eine zunehmend marginale Rolle spielt und dass sich
stattdessen ein Verständnis von politischer Theorie durchgesetzt hat, bei dem die
Theorie bloß eine willfährige Dienerin der erwähnten Nahbeobachtung adminis-
trativer Prozesse ist. Um nicht missverstanden zu werden: Ich will das Erfordernis
einer solchen Theorie nicht in Abrede stellen; was ich aber bestreiten möchte, ist
der von deren Vertretern tollkühn, d. h. in reflexionsfreier Naivität, vertretene An-
spruch, damit das Theorieerfordernis der Politikwissenschaft hinreichend bedient
zu haben. Das will ich ein wenig erläutern.
Die szientistische Ausrichtung des Fachs beruht - uneingestanden - auf der
Annahme, man habe es in der Politik mit Problemen und Schwierigkeiten, mit-
unter auch mit Unwägbarkeiten zu tun, nicht aber mit unausrechenbaren strategi-
schen Gegenspielern. Das zeigt sich darin, dass solche strategischen Gegenspieler,
wenn sie denn überhaupt vorkommen, als „Vetospieler“ bezeichnet werden, womit
die ihnen verfügbaren Optionen auf Ja oder Nein reduziert sind. Durch die Re-
duktion ihrer Kreativität beim Gegenhandeln auf das bloße „Nein“ werden sie szi-
entistisch gebändigt und handhabbar gemacht. Das ist zugleich der Grund dafür,
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Das Problem der politischen Urteilskraft
Das Fach Politikwissenschaft hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten eine andere
Entwicklung genommen, als sie Peter Graf Kielmansegg bei der Veröffentlichung
seines Buchs über den Ersten Weltkrieg und danach vorgeschwebt haben dürfte.
Skepsis als Grunddisposition hat in ihr kaum noch Platz, denn sie, die Skepsis,
ist von einem Methodendesign aufgezehrt worden, das zu den hochschießenden
Hoffnungen und Erwartungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre grund-
sätzlich Distanz hält, das in seinem szientistischen Anspruch auf methodische
Überprüfbarkeit von Aussagen aber auch keinen Grund für skeptische Zurückhal-
tung bei der Betrachtung des Möglichen und Machbaren sieht. Das Fach ist durch
die Methoden der Soziologie und Ökonomie „kolonisiert“ worden, und die meis-
ten Fachvertreter legen bei der Ausbildung der Studierenden keinen Wert auf die
Schulung politischer Urteilskraft. Sie verstehen politikwissenschaftliche Seminare
nicht als einen Raum, in dem die Befähigung, Politik zu betreiben, zu beurteilen
und zu kommentieren, vermittelt wird, sondern sehen darin einen Trainingsplatz
für wissenschaftliche Analysen möglichst eng umrissener Politikfelder. Man könn-
te auch sagen: Im Prozess seiner Szientifizierung ist die Wissenschaft von der Po-
litik zunehmend zu einer Wissenschaft von Verwaltungsabläufen geworden, und
dabei ist der Zeithorizont, der dabei ins Blickfeld kommt, auf ein Jahrzehnt in die
Vergangenheit und eines in die Zukunft zusammengeschrumpft. Es dominiert die
Nahperspektive. Weitblick traut man sich schon aus methodischen Erwägungen
nicht zu.
Eine Folge dessen ist, dass die politische Ideengeschichte, der klassische Trai-
ningsplatz für die Entwicklung politischer Urteilskraft, in der Struktur politik-
wissenschaftlicher Institute eine zunehmend marginale Rolle spielt und dass sich
stattdessen ein Verständnis von politischer Theorie durchgesetzt hat, bei dem die
Theorie bloß eine willfährige Dienerin der erwähnten Nahbeobachtung adminis-
trativer Prozesse ist. Um nicht missverstanden zu werden: Ich will das Erfordernis
einer solchen Theorie nicht in Abrede stellen; was ich aber bestreiten möchte, ist
der von deren Vertretern tollkühn, d. h. in reflexionsfreier Naivität, vertretene An-
spruch, damit das Theorieerfordernis der Politikwissenschaft hinreichend bedient
zu haben. Das will ich ein wenig erläutern.
Die szientistische Ausrichtung des Fachs beruht - uneingestanden - auf der
Annahme, man habe es in der Politik mit Problemen und Schwierigkeiten, mit-
unter auch mit Unwägbarkeiten zu tun, nicht aber mit unausrechenbaren strategi-
schen Gegenspielern. Das zeigt sich darin, dass solche strategischen Gegenspieler,
wenn sie denn überhaupt vorkommen, als „Vetospieler“ bezeichnet werden, womit
die ihnen verfügbaren Optionen auf Ja oder Nein reduziert sind. Durch die Re-
duktion ihrer Kreativität beim Gegenhandeln auf das bloße „Nein“ werden sie szi-
entistisch gebändigt und handhabbar gemacht. Das ist zugleich der Grund dafür,
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