Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2017 an Jan und Aleida Assmann
ne Langeweile und vergesse alle Sorgen.“5 Diesem Geistergespräch haftet nichts
geisterhaft Unheimliches an, denn die Bibliothek wird nicht als ein liminaler Ort
der Totenbeschwörung imaginiert, sondern als auratischer Ort eines festlichen Ge-
sprächs zwischen Lebenden und Toten.6
Der Buchdruck hatte eine doppelte Wirkung: Während durch serielle Repro-
duktion die ursprüngliche Heiligkeit und Exklusivität der Bibel herabgestuft wur-
de, wurde gleichzeitig im Zeitalter der Reformation das Buch als Wissensspeicher
und Gebrauchsgegenstand enorm aufgewertet. In seiner Rede über Pressefreiheit
hat Milton Bücher geradezu auratisiert. Sie sind für ihn: „keine gänzlich toten
Gegenstände, sondern bergen eine Lebenskraft, die ebenso aktiv ist wie die Seele
dessen, der sie in die Welt gesetzt hat. Tatsächlich enthalten sie wie in einer Ampul-
le die reinste Kraft und Essenz des lebendigen Geists, dem sie entstammen.“ Und
weiter: „Ein gutes Buch ist der Abdruck eines großen Geistes, einbalsamiert und
aufbewahrt für ein Leben nach dem Leben.“7
Nicht mehr nur durch die Autorität von Traditionen und Schulen wurden der
Geist und die Gedanken der Lehrer über ihren Tod hinaus weitergegeben, sondern
von nun an auch durch den freien Zugang, open access, zum gedruckten Buch. Was
das einzelne Buch als Gegenstand vermag, leistet die Bibliothek in Potenz. Sie
bildet einen sakrosankten Raum, um nicht zu sagen: einen magischen Kreis, in
dem sich das Wunder eines synchronen Gesprächs über die Todesschwelle hinweg
ereignen kann.
Im 19. Jahrhundert war das Buch kein auratisches Objekt mehr; im Gegen-
teil stand Buchdruck für Massenkultur und die Trivialisierung wahren Wissens.
Unter diesen Umständen hat Nietzsche das Bild vom Geistergespräch wieder
5 Niccolo Machiavelli, zit. aus einem Brief (1513) in verkürzter Form. Brogsitter S. 205-206.
Es ist signifikant zu wissen, dass Machiavelli dieses besondere Verhältnis zu den literarischen
Geistesgenossen unter den Umständen seiner Einsamkeit und Verbannung entwickelte. Seine
Therapie lautete: Sozialisierung durch Bücher und Lektüre. Vgl. auch Helmut Pfeiffer, „Me-
lancholie des Schreibens. Girolamo Cardano und sein De vita propria, in Gumbrecht, Pfeiffer,
Materialität des Zeichens, 1988, 218-236; 219.
6 Zu Buch und Tod, Leben und Lesen vgl. Uwe Timm, Montaignes Turm. Essays, Kiepeneuer
und Witsch 2015, 13: „Was über (La Boeties) Tod und auch über die Lebenszeit des Biblio-
thekbesitzers und Schreibers Montaigne hinausreichen wird, sind die Bücher. Sie stammen
von Toten und aus ihnen sprechen Tote. Wer sie in der Bibliothek des Turms ersgriffen hat,
der erfüllte sie lesend mit Leben, zugleich aber raubten sie dem Lelsenden etwas von seiner
Lebenszeit. Und so trieben die Bücher nicht nur in in diesem Turm ihr vampirhaftes Wesen,
sondern tun es in jeder Bibliothek, so modern und verglast und lichtdurchlässig sie auch
sein mag.“
7 „Books are not absolutely dead things, but do contain a potency of life in them to be as active
as that soul was whose progeny they are; nay they do preserve as in a vial the purest efficacy
and extraction of that living intellect that bred them.“ John Milton, Areopagitica; a Speech for
the Liberty of Unlicensed Printing, To the Parliamant of England, London 1644, in: Malcolm
W. Wallace, ed., Milton’s Prose, London 1963, 279-280.
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ne Langeweile und vergesse alle Sorgen.“5 Diesem Geistergespräch haftet nichts
geisterhaft Unheimliches an, denn die Bibliothek wird nicht als ein liminaler Ort
der Totenbeschwörung imaginiert, sondern als auratischer Ort eines festlichen Ge-
sprächs zwischen Lebenden und Toten.6
Der Buchdruck hatte eine doppelte Wirkung: Während durch serielle Repro-
duktion die ursprüngliche Heiligkeit und Exklusivität der Bibel herabgestuft wur-
de, wurde gleichzeitig im Zeitalter der Reformation das Buch als Wissensspeicher
und Gebrauchsgegenstand enorm aufgewertet. In seiner Rede über Pressefreiheit
hat Milton Bücher geradezu auratisiert. Sie sind für ihn: „keine gänzlich toten
Gegenstände, sondern bergen eine Lebenskraft, die ebenso aktiv ist wie die Seele
dessen, der sie in die Welt gesetzt hat. Tatsächlich enthalten sie wie in einer Ampul-
le die reinste Kraft und Essenz des lebendigen Geists, dem sie entstammen.“ Und
weiter: „Ein gutes Buch ist der Abdruck eines großen Geistes, einbalsamiert und
aufbewahrt für ein Leben nach dem Leben.“7
Nicht mehr nur durch die Autorität von Traditionen und Schulen wurden der
Geist und die Gedanken der Lehrer über ihren Tod hinaus weitergegeben, sondern
von nun an auch durch den freien Zugang, open access, zum gedruckten Buch. Was
das einzelne Buch als Gegenstand vermag, leistet die Bibliothek in Potenz. Sie
bildet einen sakrosankten Raum, um nicht zu sagen: einen magischen Kreis, in
dem sich das Wunder eines synchronen Gesprächs über die Todesschwelle hinweg
ereignen kann.
Im 19. Jahrhundert war das Buch kein auratisches Objekt mehr; im Gegen-
teil stand Buchdruck für Massenkultur und die Trivialisierung wahren Wissens.
Unter diesen Umständen hat Nietzsche das Bild vom Geistergespräch wieder
5 Niccolo Machiavelli, zit. aus einem Brief (1513) in verkürzter Form. Brogsitter S. 205-206.
Es ist signifikant zu wissen, dass Machiavelli dieses besondere Verhältnis zu den literarischen
Geistesgenossen unter den Umständen seiner Einsamkeit und Verbannung entwickelte. Seine
Therapie lautete: Sozialisierung durch Bücher und Lektüre. Vgl. auch Helmut Pfeiffer, „Me-
lancholie des Schreibens. Girolamo Cardano und sein De vita propria, in Gumbrecht, Pfeiffer,
Materialität des Zeichens, 1988, 218-236; 219.
6 Zu Buch und Tod, Leben und Lesen vgl. Uwe Timm, Montaignes Turm. Essays, Kiepeneuer
und Witsch 2015, 13: „Was über (La Boeties) Tod und auch über die Lebenszeit des Biblio-
thekbesitzers und Schreibers Montaigne hinausreichen wird, sind die Bücher. Sie stammen
von Toten und aus ihnen sprechen Tote. Wer sie in der Bibliothek des Turms ersgriffen hat,
der erfüllte sie lesend mit Leben, zugleich aber raubten sie dem Lelsenden etwas von seiner
Lebenszeit. Und so trieben die Bücher nicht nur in in diesem Turm ihr vampirhaftes Wesen,
sondern tun es in jeder Bibliothek, so modern und verglast und lichtdurchlässig sie auch
sein mag.“
7 „Books are not absolutely dead things, but do contain a potency of life in them to be as active
as that soul was whose progeny they are; nay they do preserve as in a vial the purest efficacy
and extraction of that living intellect that bred them.“ John Milton, Areopagitica; a Speech for
the Liberty of Unlicensed Printing, To the Parliamant of England, London 1644, in: Malcolm
W. Wallace, ed., Milton’s Prose, London 1963, 279-280.
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