B. Die Mitglieder
communis opinio gewendet, der zufolge man nach Parrys Entdeckungen die gesamte,
vornehmlich deutschsprachige Forschungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts
zur Schichtenanalyse unbedenklich ungelesen lassen könne - eine communis opinio,
die sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut, die aber West ausdrücklich
zurückgewiesen hat.111
Gegen Ende seiner Kölner Zeit erreichte Dihle die ehrenvolle Einladung, für
das akademische Jahr 1973/74 als 61. Sather Professor an die University of Califor-
nia in Berkeley zu gehen. Der Grundgedanke seiner Sather Classical Lectures zum
Thema „The Theory ofWill in Classical Antiquity“, die 1982 als Buch112 und 1985
in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurden,113 sei hier einmal in äußers-
ter Knappheit resümiert, da er sich angesichts der Fülle der damit verbundenen
Probleme und Textbelege erfahrungsgemäß nicht auf den ersten Blick erschließt.
Den Ansatzpunkt des Arguments bieten die Kriterien, nach denen menschliche
Handlungen einerseits in der nichtjüdischen und nichtchristlichen Antike, an-
dererseits in Judentum und Christentum als gut bzw. schlecht bewertet werden.
In der antiken Philosophie gelten solche Handlungen als gut, zu denen man auf
rationale Weise, d. h. aufgrund einer richtigen Einsicht in die Weltordnung und
in die eigene Stellung in dieser Weltordnung gelangt ist, und als schlecht solche,
die man in einem irrationalen Zustand begangen hat, in dem man zu einer sol-
chen richtigen Einsicht bzw. zu entsprechendem Handeln unfähig war. Aristoteles
z. B. spricht in diesem Zusammenhang von menschlichen „Strebungen“ (prexeis),
und er unterteilt die Strebungen - in der Ethik114 wie auch sonst115 - in die ratio-
nale Strebungsart (bülesis) einerseits und die beiden irrationalen Strebungsarten
Leidenschaft (thymos') und Begierde (epithymia') andererseits. Demgemäß bewertet
Aristoteles Handlungen als gut, die aus einer rationalen Strebung hervorgegangen
sind, und als schlecht solche, die aus einer der beiden irrationalen Strebungsarten
hervorgegangen sind. Allerdings legt gerade Aristoteles größtes Gewicht darauf,
dass die verstandesmäßige Einsicht in das Richtige - anders als nach der Sokra-
tisch-Platonischen Theorie vom „Tugendwissen“ - noch kein richtiges Handeln
garantiert: Nach Aristoteles hängt das Gelingen des Lebens vielmehr entscheidend
davon ab, dass man sich von Kindesbeinen in die Gewohnheit (hexis) einübt, sich
von der rationalen Strebung leiten zu lassen.116 Dies ändert jedoch nichts an dem
auf die menschliche Rationalität bezogenen Charakter der Handlungsbeurteilung;
und das Gleiche gilt aus Dihles Sicht auch für die ältere Stoa, in der zwischen der
Vorstellung (phantasia') von einem handlungsauslösenden Motiv bzw. dem Drang
111 West 2011,5.
112 Dihle 1982.
113 Dihle 1985.
114 Aristoteles Endemische Ethik B 7, 1223a26-27.
115 Aristoteles De Anima B 3, 414b2; De Motu Animalium 6, 700b22-23.
116 Dihle 1986, 182a (= Dihle 2013, 158-159).
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communis opinio gewendet, der zufolge man nach Parrys Entdeckungen die gesamte,
vornehmlich deutschsprachige Forschungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts
zur Schichtenanalyse unbedenklich ungelesen lassen könne - eine communis opinio,
die sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut, die aber West ausdrücklich
zurückgewiesen hat.111
Gegen Ende seiner Kölner Zeit erreichte Dihle die ehrenvolle Einladung, für
das akademische Jahr 1973/74 als 61. Sather Professor an die University of Califor-
nia in Berkeley zu gehen. Der Grundgedanke seiner Sather Classical Lectures zum
Thema „The Theory ofWill in Classical Antiquity“, die 1982 als Buch112 und 1985
in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurden,113 sei hier einmal in äußers-
ter Knappheit resümiert, da er sich angesichts der Fülle der damit verbundenen
Probleme und Textbelege erfahrungsgemäß nicht auf den ersten Blick erschließt.
Den Ansatzpunkt des Arguments bieten die Kriterien, nach denen menschliche
Handlungen einerseits in der nichtjüdischen und nichtchristlichen Antike, an-
dererseits in Judentum und Christentum als gut bzw. schlecht bewertet werden.
In der antiken Philosophie gelten solche Handlungen als gut, zu denen man auf
rationale Weise, d. h. aufgrund einer richtigen Einsicht in die Weltordnung und
in die eigene Stellung in dieser Weltordnung gelangt ist, und als schlecht solche,
die man in einem irrationalen Zustand begangen hat, in dem man zu einer sol-
chen richtigen Einsicht bzw. zu entsprechendem Handeln unfähig war. Aristoteles
z. B. spricht in diesem Zusammenhang von menschlichen „Strebungen“ (prexeis),
und er unterteilt die Strebungen - in der Ethik114 wie auch sonst115 - in die ratio-
nale Strebungsart (bülesis) einerseits und die beiden irrationalen Strebungsarten
Leidenschaft (thymos') und Begierde (epithymia') andererseits. Demgemäß bewertet
Aristoteles Handlungen als gut, die aus einer rationalen Strebung hervorgegangen
sind, und als schlecht solche, die aus einer der beiden irrationalen Strebungsarten
hervorgegangen sind. Allerdings legt gerade Aristoteles größtes Gewicht darauf,
dass die verstandesmäßige Einsicht in das Richtige - anders als nach der Sokra-
tisch-Platonischen Theorie vom „Tugendwissen“ - noch kein richtiges Handeln
garantiert: Nach Aristoteles hängt das Gelingen des Lebens vielmehr entscheidend
davon ab, dass man sich von Kindesbeinen in die Gewohnheit (hexis) einübt, sich
von der rationalen Strebung leiten zu lassen.116 Dies ändert jedoch nichts an dem
auf die menschliche Rationalität bezogenen Charakter der Handlungsbeurteilung;
und das Gleiche gilt aus Dihles Sicht auch für die ältere Stoa, in der zwischen der
Vorstellung (phantasia') von einem handlungsauslösenden Motiv bzw. dem Drang
111 West 2011,5.
112 Dihle 1982.
113 Dihle 1985.
114 Aristoteles Endemische Ethik B 7, 1223a26-27.
115 Aristoteles De Anima B 3, 414b2; De Motu Animalium 6, 700b22-23.
116 Dihle 1986, 182a (= Dihle 2013, 158-159).
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