Nachruf auf Albrecht Dihle
(horme) zur Handlung einerseits und der Handlung selbst andererseits noch ein
gesonderter Akt der Zustimmung (gr. synkatathesis, lat. adsensio) zu jenem Drang an-
gesetzt wird."7 Denn auch diese Zustimmung ist nach Auffassung der Stoiker eine
Leistung des seelischen Leitorgans (to hegemonikon) und damit der Rationalität,
insofern sie die Stellung des obersten Seelenteils diesem Leitorgan zuschreiben,117 118
„welches die Vorstellungen und Zustimmungen und Sinneswahrnehmung und
Handlungsimpulse bewirkt und welches sie Vernunft (logismos) nennen.“119
Im jüdisch-christlichen Glauben hingegen bemisst sich die Qualität einer
Handlung an ihrer Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit dem
Willen Gottes (Man denke nur an die als vorbildlich hingestellte fromme Bereit-
schaft Abrahams, seinen Sohn Isaak auf Gottes Geheiß zu opfern),120 und das heißt
hier: eines Gottes, der - anders als die Götter der antiken Griechen und Römer
bis hinauf zu Zeus/Iupiter - nicht Teil der Weltordnung ist, sondern über dieser
Weltordnung steht, die er ja vielmehr selbst geschaffen hat. Der jüdisch-christ-
liche Gott offenbart, z. B. durch seine Gebote, seinen Willen, „dessen kognitive
Voraussetzungen im Dunkel bleiben“;121 - jedenfalls seitdem die menschliche Ver-
nunft durch den Sündenfall verdunkelt ist. Deshalb wäre es ganz abwegig, den
Gehorsam gegen Gottes Gebote unter die Bedingung zu stellen, dass der Mensch
diese Gebote rational nachvollziehen kann: Einen verlässlichen Zusammenhang
zwischen dem Gehorsam gegen Gottes Willen und der menschlichen Rationalität
kann es nach dem Gesagten ebenso wenig geben wie einen verlässlichen Zusam-
menhang zwischen dem Ungehorsam gegen Gottes Willen und der menschlichen
Irrationalität. Wenn aber die Güte bzw. Schlechtigkeit menschlicher Handlungen
nicht länger auf die Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit menschlicher Rationalität zu-
rückgeführt werden kann, dann muss ein anderer Faktor dafür den Ausschlag ge-
ben. Da es so paradox wie unerwünscht sein würde, Gott selbst die Verantwortung
für den Ungehorsam des Menschen gegen Gott anzulasten, muss der betreffende
Faktor im Menschen gefunden werden. Augustinus findet ihn im Willen des Men-
schen, insofern dieser Wille durch den von Adam und Eva willentlich vollzoge-
nen Sündenfall ein für alle Mal pervertiert wurde. Dihle fasst dieses Augustinische
Lehrstück folgendermaßen zusammen:122
117 Seneca epist. 113, 118 (= SVF III 169): Omne rationale animal nihil agit, nisi primum specie
alicuius rei inritatum est, deinde impetum cepit, deinde adsensio confirmavit hunc impetum.
118 Dihle 1985, 73.
119 Aetios 4, 21, 1 (Mansfeld/Runia 2020, Part 3, S. 1711 = SVF II 836): oi Stcoikoi tpaoiv eivat
rfjt; yvxnS ctvibTaxov päpoc; tö pyepoviKÖv rö noiovv reu; (pavracriac; Kai auyKaraOEOEic; Kai
aicrOrpEu; Kai öppac;- Kai tovto Xoyiopöv KaXovcnv.
120 1. Mose 22, 1-19.
121 Dihle 1987b, 31 (= Dihle 2013, 162). Vgl. Römerbrief 11.33: ebe; äve^cpavvr|Ta rä Kpipara
avroü Kai dvE^xviaaTOi ai ööoi avTov. („Wie unerforschlich sind seine [seil. Gottes] Ent-
scheide und wie unaufspürbar seine Wege!“).
122 Dihle 1985, 14.
111
(horme) zur Handlung einerseits und der Handlung selbst andererseits noch ein
gesonderter Akt der Zustimmung (gr. synkatathesis, lat. adsensio) zu jenem Drang an-
gesetzt wird."7 Denn auch diese Zustimmung ist nach Auffassung der Stoiker eine
Leistung des seelischen Leitorgans (to hegemonikon) und damit der Rationalität,
insofern sie die Stellung des obersten Seelenteils diesem Leitorgan zuschreiben,117 118
„welches die Vorstellungen und Zustimmungen und Sinneswahrnehmung und
Handlungsimpulse bewirkt und welches sie Vernunft (logismos) nennen.“119
Im jüdisch-christlichen Glauben hingegen bemisst sich die Qualität einer
Handlung an ihrer Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit dem
Willen Gottes (Man denke nur an die als vorbildlich hingestellte fromme Bereit-
schaft Abrahams, seinen Sohn Isaak auf Gottes Geheiß zu opfern),120 und das heißt
hier: eines Gottes, der - anders als die Götter der antiken Griechen und Römer
bis hinauf zu Zeus/Iupiter - nicht Teil der Weltordnung ist, sondern über dieser
Weltordnung steht, die er ja vielmehr selbst geschaffen hat. Der jüdisch-christ-
liche Gott offenbart, z. B. durch seine Gebote, seinen Willen, „dessen kognitive
Voraussetzungen im Dunkel bleiben“;121 - jedenfalls seitdem die menschliche Ver-
nunft durch den Sündenfall verdunkelt ist. Deshalb wäre es ganz abwegig, den
Gehorsam gegen Gottes Gebote unter die Bedingung zu stellen, dass der Mensch
diese Gebote rational nachvollziehen kann: Einen verlässlichen Zusammenhang
zwischen dem Gehorsam gegen Gottes Willen und der menschlichen Rationalität
kann es nach dem Gesagten ebenso wenig geben wie einen verlässlichen Zusam-
menhang zwischen dem Ungehorsam gegen Gottes Willen und der menschlichen
Irrationalität. Wenn aber die Güte bzw. Schlechtigkeit menschlicher Handlungen
nicht länger auf die Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit menschlicher Rationalität zu-
rückgeführt werden kann, dann muss ein anderer Faktor dafür den Ausschlag ge-
ben. Da es so paradox wie unerwünscht sein würde, Gott selbst die Verantwortung
für den Ungehorsam des Menschen gegen Gott anzulasten, muss der betreffende
Faktor im Menschen gefunden werden. Augustinus findet ihn im Willen des Men-
schen, insofern dieser Wille durch den von Adam und Eva willentlich vollzoge-
nen Sündenfall ein für alle Mal pervertiert wurde. Dihle fasst dieses Augustinische
Lehrstück folgendermaßen zusammen:122
117 Seneca epist. 113, 118 (= SVF III 169): Omne rationale animal nihil agit, nisi primum specie
alicuius rei inritatum est, deinde impetum cepit, deinde adsensio confirmavit hunc impetum.
118 Dihle 1985, 73.
119 Aetios 4, 21, 1 (Mansfeld/Runia 2020, Part 3, S. 1711 = SVF II 836): oi Stcoikoi tpaoiv eivat
rfjt; yvxnS ctvibTaxov päpoc; tö pyepoviKÖv rö noiovv reu; (pavracriac; Kai auyKaraOEOEic; Kai
aicrOrpEu; Kai öppac;- Kai tovto Xoyiopöv KaXovcnv.
120 1. Mose 22, 1-19.
121 Dihle 1987b, 31 (= Dihle 2013, 162). Vgl. Römerbrief 11.33: ebe; äve^cpavvr|Ta rä Kpipara
avroü Kai dvE^xviaaTOi ai ööoi avTov. („Wie unerforschlich sind seine [seil. Gottes] Ent-
scheide und wie unaufspürbar seine Wege!“).
122 Dihle 1985, 14.
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