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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0115
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Nachruf auf Albrecht Dihle

und ihren Folgen beruht die differenzierte Sicht auf „Antike und Christentum“, die
Dihles Geschichte der kaiserzeitlichen Literatur zugrunde liegt. Zunächst konnte
die Missionierung „der im Sinn der griechisch-römischen Bildungstradition zivi-
lisierten Menschheit“129 nur dann auf Erfolg hoffen, wenn die Christen sich ihrer-
seits dem Einfluss dieser Bildungstradition öffneten: Zu einer Weltreligion wurde
das Christentum im Rahmen der griechisch-römischen Kultur und durch ihre Ver-
mittlung. Nachdem das Christentum aber einmal zur Staatsreligion des Imperiums
erhoben worden war, hätte die griechisch-römische Kultur des Imperiums als solche
auf die Dauer keine privilegierte Stellung mehr beanspruchen können: Weder hätte
man die vonjener Kultur nicht erfassten Christen außerhalb wie auch innerhalb der
Reichsgrenzen noch länger als Barbaren abwerten können, noch hätte das nunmehr
christlich gewordene Imperium es weiter hinnehmen können, dass gerade in seiner
Oberschicht viele nicht-christliche Vertreter der alten Bildungseliten - Senatoren,
Rhetoren, Philosophen - zu finden waren.130 Aus diesem Spannungspotential er-
gibt sich die geschichtliche Bedeutung der Tatsache, dass die griechisch-römische
Kultur im Laufe von Kaiserzeit und Spätantike allmählich eine Metamorphose durch-
machte, an deren Ende sie mit den Lehren und Lebensformen des Christentums
verschmolzen war. Denn in ihrer bei dieser Metamorphose angenommenen neuen
Gestalt konnte die antike Kultur im mittelalterlichen Byzanz ebenso wie im Karo-
lingerreich und seinen Nachfolgestaaten fortwirken; und allein die so vermittelte
dauernde Präsenz der antiken Kultur im Christentum und in der von ihm geprägten
Welt hat dann die Möglichkeit offengehalten, „sich immer wieder auch ihren vor-
christlichen Hervorbringungen zuzuwenden“.131
Dihles große Erzählung von der griechischen und lateinischen Literatur der
Kaiserzeit ist nun die Geschichte dieser Metamorphose, soweit sie Literatur, Philoso-
phie und Wissenschaft betraf. Gegen die im späten 19. Jahrhundert beliebte Vor-
stellung der Renaissance als eines heroischen Befreiungssprungs über Mittelalter,
Spätantike und Kaiserzeit zurück in die augusteische oder perikleische Klassik setzt
Dihle die Vergegenwärtigung der kulturgeschichtlichen Entwicklung, der allein
es zu verdanken ist, dass vorchristliche antike Literatur, Philosophie und Wissen-
schaft durch die christliche Kultur des Mittelalters im griechischen Osten wie im
lateinischen Westen überhaupt überliefert wurde. So eröffnet Dihles Buch ein tie-
feres Verständnis dessen, was man eigentlich tut, wenn man auf die Antike zurück-
greift: „Der Rückgriff auf die Wurzeln einer Tradition ist kein Traditionsbruch“.132
Hier hat man natürlich hinzuzudenken: „... wenn es sich denn um eine veritable
Renaissance handelt“; denn selbst die destruktivsten Revolutionäre haben noch

129 Dihle 1994b, 103.
130 Dihle 1994b, 129.
131 Vgl. Dihle I989, 619.
132 Dihle 1994a, 22.

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