Metadaten

Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0166
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
4.5 Aspekte des Textes

165

Ausführungen innerhalb des Traktats Von den vier Arten der Gewissen. Der
Kopist des Textes in der Fassung aus Soissons (oder der entsprechenden Vorlage)
hielt diesen Aspekt sogar für so wesentlich, dass er das gesamte Werk auf diesen
Punkt fokussiert sah und ihn für titelgebend erachtete: Tractatus compendiosus
de puritate conscientie (S. 180, Anm. 29). Mehr über eben jene Reinheit des Ge-
wissens zu erfahren, war offensichtlich das, was der unbekannte Adressat vom
ebenfalls unbekannten Verfasser des Textes erbeten hatte.259
Dieses Reinheitsideal stellt - hierauf wies Ruth Lindemann hin - einen maß-
geblichen Beitrag des Christentums zu den europäischen Konzepten von consci-
entia dar.260 Es ist ein Element, dessen Herkommen aus dem Kultisch-Sakralen
die Vorstellungen vom Gewissen in entscheidender Weise prägte. Vom Apostel
Paulus konnte man lesen, dass er Gott mit reinem Gewissen diente (II Tim 1.3)
und von den Bischöfen forderte, „das Geheimnis des Glaubens mit reinem Ge-
wissen zu bewahren“ (I Tim 3.9). Diese paulinische conscientia pura gewann ihre
Brisanz dabei nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sie stets prekär war. Sie konnte
sich verkehren und das, was rein war und auch rein sein sollte, war der Gefahr
ausgesetzt, beschmutzt zu werden, wie im Titus-Brief formuliert: Zwar sei den
Reinen alles rein, nicht aber den Unreinen und Ungläubigen: Ihr Sinn sei ebenso
unrein wie ihr Gewissen (Tit 1.15).
Die Forderungen des Paulus, insbesondere jene in den Briefen an die Ge-
meinde von Korinth enthaltenen, sind auch zentral für De quattuor modis consci-
entiaxum', geradezu leitmotivisch steht seine Aussage über dem Text, der zufolge
das Zeugnis des Gewissens den Ruhm des Menschen verkünde (II Cor 1.12).
Und sollte doch einmal ein Gedanke das Innere eines Menschen beflecken, so
würde dieser Schmutz durch seine ratio - was hier wohl am ehesten mit „Unter-
werfung unter das Gesetz“ wiederzugeben ist - wieder abgewaschen werden.261
Zeugnis vom Inneren legte dabei das Außere eines Menschen ab: sein Lebens-
wandel. Beide wurden als korrespondierend verstanden.262
Ein vorbildliches Leben verwies in dieser Logik auch auf die puritas conscien-
tiae'. So charakterisierte der Babenberger Otto, selbst Zisterzienser und nachma-
liger Bischof von Freising, die von ihm als Weltenretter beschriebenen Religiösen
eben als solche, die bereits auf Erden nicht nur ein Leben in himmlischer Heilig-

259 „Petis a me, dilecte mi, quod supra me, immo contra me est: videlicet lumen scientie, conscien-
tie puritatem.“ De quattuor modis conscientiarum, Prolog, unten S. 178, Z. 7.
260 Vgl. R. Lindemann, Der Begriff der conscience, S. 18-20.
261 quam etsi cogitatio inquinat, ratio lavat Vgl. unten S. 188, Z. 12f. Die Übersetzung
nach J. Fr. Niermeyer, Lexicon, s.v., n° 1.
262 Vgl. hierzu die Überlegungen von Thomas Lentes, Andacht und Gebärde, und im Anschluss
an diesen R. Schnell, Wer sieht das Unsichtbare, S. 86-93.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften