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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0284
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6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen

283

Jean Raulin: Sermones quadragesimales
Im Jahr 1511 erschien bei Jean Petit in Paris das Opus sermonum quadragesima-
lium des Jean Raulin (f 1515). Diese Ausgabe von Predigten zur Fastenzeit war
offensichtlich so erfolgreich, dass bereits 1515 und 1518 neue Auflagen folgten.237
In einer der dort veröffentlichten Predigten - und deshalb verdienen sie in diesem
Rahmen eine Erwähnung - griff ihr Verfasser umfangreich, wenn auch ohne
Quellenangaben, auf das Motiv der vier Gewissensarten zurück.
Jean Raulin zählte zu den bedeutendsten Theologen im Paris seiner Zeit.238
Seit 1481 leitete er das traditionsreiche College de Navarre, an dem er selbst zu-
vor studiert hatte, und initiierte dort nach seinem Amtsantritt Reformen, die vor
allem auf disziplinarische Verschärfung des Reglements zielten und rasch Vor-
bildcharakter für andere Häuser erlangten.239 Innerhalb der Philosophie seiner
Zeit repräsentierte er in Paris die nominalistische Strömung und predigte mit
großem Erfolg gleichermaßen vor Klerus und Volk.240
Als sein hier im Fokus stehender Predigtzyklus 1511 erstmals veröffentlicht
wurden, war Raulin jedoch bereits seit längerer Zeit nicht mehr Weltgeistlicher,
sondern trug den Habit der Benediktiner: 1497 hatte er plötzlich und nach Aus-
kunft seiner Umgebung ohne jede Ankündigung das College verlassen und war
in die altehrwürdige Abtei von Cluny eingetreten.241 Doch bedeutete dieser
Schritt für ihn offensichtlich keine Entscheidung für ein Leben in Klausur; statt
nur innerhalb seines Ordens wirkte er weiterhin auch in der Welt.242
Predigtsammlungen, wie diejenige Raulins oder auch die bereits vorgestell-
ten des 15. Jahrhunderts, enthalten gewöhnlich literarische Predigten, die als
Muster oder zur Lektüre dienten.243 Unklar bleibt, wann Raulin die hier im
besonderen Fokus stehenden Fastenpredigten erstmals hielt oder verfasste. In
seinem an den damaligen Abt von Cluny, Jacobus de Ambasia (f 1516), gerich-

237 Paris: Jean Petit 1511, 1515; Lyon: Jean Clein 1518; Venezia: Giovanni Baptist Somaschi 1575;
Antwerpen: Gaspar Bellerus 1612; Antwerpen: Johann Keerberg 1612.
238 Zu ihm vgl. Th. Sullivan, Parisian Licentiates, S. 464-6 sowie vor allem A. Renaudet, Prere-
forme et Humanism, S. 165-70 und passim.
239 Vgl. J. K. Farge, Orthodoxy and Reform, S. 9; Ch. G. Nauert, Humanism and the Culture of
Renaissance, S. 119 und vor allem A. Levi, Renaissance and Reformation, S. 160.
240 Th. Sullivan, Parisian Licentiates, S. 465. Zum Wirken Raulins als Prediger vgl. L. Taylor,
Soldiers of Christ, s.v.
241 J.-M. Le Gall, Les moines au temps, S. 50.
242 Th. Sullivan, Parisian Licentiates, S. 465. Auch bei den Cluniazensern wirkte er wieder aktiv
als Theologe und im Sinne einer Reform seines Ordens; vgl. A. Renaudet, Paris from 1494 to
1517, S. 77f. Zu seinem Engagement für die Studien im Cluniazenserorden vgl. J.-M. Le Gall,
Les moines et la ville, S. 258f.
243 Vgl. G. Steer, VI. Geistliche Prosa. 2. Predigt, S. 319.
 
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