16 I Mirko Breitenstein
sich die eigene Sündhaftigkeit in Erinnerung rufen.6 Sie sollten sich selbst gegen-
übertreten, sich beurteilen, ja verurteilen.7 Instanz einer solchen Abstraktion
von sich selbst, einer solchen Bewusstwerdung all dessen, was zum eigenen
Selbst gehörte, war das Gewissen. Es zeigte an, ob man dem genügte, was zu
befolgen gelobt worden war, und was deshalb als notwendig zum Heil gelten
musste. Der Inhalt dieses Gelübdes bestand für Religiöse dabei jedoch nicht
allein in dem, was allgemein galt, sondern stets in dem, was über das allgemein
Geltende hinauswies und deshalb nie absolut quantifiziert werden konnte: Das
Beispiel des guten Samariters, der mehr tat, als man von ihm verlangen konnte,
die Gleichnisse Jesu über den Zugang zum Himmelreich (Ec 10.35; Mt 19.17-21)
oder die Mahnung des Paulus an die Gemeinde in Korinth über den Wert der
Ehelosigkeit (I Cor 7.25-28) haben ihren Referenzpunkt jeweils in einem spezi-
fischen ,Mehrc - in einem ,Mehrc, das den Unterschied des Geratenen vom bloß
Gebotenen herausstellt.8 Das Gewissen aber wurde für Religiöse zur Instanz,
mit der sie diese Relation zu erfassen und damit ihre Position auf ihrem Heils-
weg zu bestimmen vermochten. Vor dem Hintergrund der eben angedeuteten
Konstellation einer supererogatorischen Ethik musste die Prüfung des Gewis-
sens jedoch fast notwendig die bereits angesprochene Diskrepanz des Sollens
gegenüber dem Sein offenbaren. Verstand man das Gewissen wie Religiöse als
ein geteiltes Wissen, als Mitwissen um das Wissen Gottes, dann verband sich
das je eigene Wissen um das eigene Unvermögen stets mit dem Bewusstsein,
dass auch Gott darum wusste. Zu wissen, dass man dem Status der Heiligkeit
fern war, hieß folglich zu wissen, dass auch Gott um die eigene Heilsferne
wusste - ja mehr noch: Gott wusste dies und auch alles andere, worüber man
sich selbst vielleicht nur ungenügend Rechenschaft abgelegt hatte, noch weit
besser und vollständig. Weder vergaß er, noch übersah er.9
6 Vgl. im Überblick Cedric Giraud, Spiritualite et histoire de textes entre moyen äge et epo-
que moderne. Genese et fortune d’un corpus pseudepigraphe de meditations (Collection des
Etudes Augustiniennes, Serie Moyen Age et Temps Modernes 52), Paris 2016, v. a. S. 33-117.
7 Disce [...] temetipsum iudicare, teipsum apud teipsum accusare, saepe etiam et condemnare,
nec impunitum dimittere., Wilhelm von St. Thierry, Epistola ad fratres de Monte Dei, ed.
Paul Verdeyen, Guillelmi a Sancto Theodorico, Opera didactica et spiritualia = Guillelmi
a Sancto Theodorico opera omnia, Bd. 3 (CC.CM 88), Turnhout 2003, S. 213-289, cap. 107,
S. 250f.
8 Vgl. Ulla Wessels, Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation (Ideen & Argu-
mente), Berlin/New York 2002, S. 151-153 und passim.
9 Berndt Hamm sprach unlängst von der „totalen Memoria“ Gottes: ludicium particulare.
Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vor-
stellung vom Individualgericht, in: Ludger GRENZMANN/Burkhardt HASEBRiNK/Frank
Rexroth (Hgg.), Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit,
Bd. 1: Paradigmen personaler Identität (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften
zu Göttingen 41.1), Berlin 2016, S. 287-319, hier S. 290; vgl. speziell für die vita religiosa-.
sich die eigene Sündhaftigkeit in Erinnerung rufen.6 Sie sollten sich selbst gegen-
übertreten, sich beurteilen, ja verurteilen.7 Instanz einer solchen Abstraktion
von sich selbst, einer solchen Bewusstwerdung all dessen, was zum eigenen
Selbst gehörte, war das Gewissen. Es zeigte an, ob man dem genügte, was zu
befolgen gelobt worden war, und was deshalb als notwendig zum Heil gelten
musste. Der Inhalt dieses Gelübdes bestand für Religiöse dabei jedoch nicht
allein in dem, was allgemein galt, sondern stets in dem, was über das allgemein
Geltende hinauswies und deshalb nie absolut quantifiziert werden konnte: Das
Beispiel des guten Samariters, der mehr tat, als man von ihm verlangen konnte,
die Gleichnisse Jesu über den Zugang zum Himmelreich (Ec 10.35; Mt 19.17-21)
oder die Mahnung des Paulus an die Gemeinde in Korinth über den Wert der
Ehelosigkeit (I Cor 7.25-28) haben ihren Referenzpunkt jeweils in einem spezi-
fischen ,Mehrc - in einem ,Mehrc, das den Unterschied des Geratenen vom bloß
Gebotenen herausstellt.8 Das Gewissen aber wurde für Religiöse zur Instanz,
mit der sie diese Relation zu erfassen und damit ihre Position auf ihrem Heils-
weg zu bestimmen vermochten. Vor dem Hintergrund der eben angedeuteten
Konstellation einer supererogatorischen Ethik musste die Prüfung des Gewis-
sens jedoch fast notwendig die bereits angesprochene Diskrepanz des Sollens
gegenüber dem Sein offenbaren. Verstand man das Gewissen wie Religiöse als
ein geteiltes Wissen, als Mitwissen um das Wissen Gottes, dann verband sich
das je eigene Wissen um das eigene Unvermögen stets mit dem Bewusstsein,
dass auch Gott darum wusste. Zu wissen, dass man dem Status der Heiligkeit
fern war, hieß folglich zu wissen, dass auch Gott um die eigene Heilsferne
wusste - ja mehr noch: Gott wusste dies und auch alles andere, worüber man
sich selbst vielleicht nur ungenügend Rechenschaft abgelegt hatte, noch weit
besser und vollständig. Weder vergaß er, noch übersah er.9
6 Vgl. im Überblick Cedric Giraud, Spiritualite et histoire de textes entre moyen äge et epo-
que moderne. Genese et fortune d’un corpus pseudepigraphe de meditations (Collection des
Etudes Augustiniennes, Serie Moyen Age et Temps Modernes 52), Paris 2016, v. a. S. 33-117.
7 Disce [...] temetipsum iudicare, teipsum apud teipsum accusare, saepe etiam et condemnare,
nec impunitum dimittere., Wilhelm von St. Thierry, Epistola ad fratres de Monte Dei, ed.
Paul Verdeyen, Guillelmi a Sancto Theodorico, Opera didactica et spiritualia = Guillelmi
a Sancto Theodorico opera omnia, Bd. 3 (CC.CM 88), Turnhout 2003, S. 213-289, cap. 107,
S. 250f.
8 Vgl. Ulla Wessels, Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation (Ideen & Argu-
mente), Berlin/New York 2002, S. 151-153 und passim.
9 Berndt Hamm sprach unlängst von der „totalen Memoria“ Gottes: ludicium particulare.
Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vor-
stellung vom Individualgericht, in: Ludger GRENZMANN/Burkhardt HASEBRiNK/Frank
Rexroth (Hgg.), Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit,
Bd. 1: Paradigmen personaler Identität (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften
zu Göttingen 41.1), Berlin 2016, S. 287-319, hier S. 290; vgl. speziell für die vita religiosa-.