24 I Mirko Breitenstein
Prophetenwortes, wobei er nicht den Bezug zur Hölle verlor, sondern eine
eigenständige Semantik erlangte, in der seelische Schmerzen im Allgemeinen
und Gewissensqualen im Besonderen unmittelbar auf die Hölle verwiesen.38
Auch Otto von Freising kennt und benennt den Wurm als Inbegriff hölli-
scher Strafen und weiß um dessen ambigues Deutungspotential. So glaubten
manche:
[...] die Bösen würden in der Hölle nicht nur von materiellem Feuer gebrannt,
sondern auch von wirklichen Würmern gepeinigt. Andere deuten die Würmer auf
die Gewissensqualen und nehmen eine doppelte Marter an, eine innere seelische
und eine äußere körperliche. Wieder andere beziehen beide Ausdrücke auf das
Seelische und meinen, die Verworfenen würden ebenso vom Feuer gebrannt wie
von Würmern benagt [...] Mir scheinen die recht zu haben, die der Ansicht sind,
der Leib werde durch richtiges Feuer, die Seele aber durch Gewissensbisse gepei-
nigt. Weil also wegen des in bösem Tun verbrachten Lebens der ewige Tod ihr
Gewissen benagen und ewiges Feuer ohne Ende Leib und Seele brennen werde,
sagt der Prophet mit Recht: „Ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird
nicht verlöschen.“39
Otto plädiert somit für eine Gleichwertigkeit geistlicher und körperlicher Qua-
len und stand mit dieser Sicht nicht allein. Auf den Punkt gebracht findet sich
diese neue Dichotomie in den pseudobernhardischen Meditationes1. Die Ver-
dammten würden, heißt es hier in Übereinstimmung mit der Tradition, für alle
Ewigkeit im ewigen Feuer brennen. Im Fleisch würden sie durch die Flammen
gequält, im Geist aber durch ihr Gewissen, wobei auch hier der Wurm des Ge-
wissens als unmittelbarer Urheber des Leidens Erwähnung fand.40 Der unbe-
kannte Verfasser der pseudo-hugonischen Miscellanea wiederum formulierte,
dass die Hölle in dreifacher Weise zu verstehen sei: als nie sterbenden Wurm, der
38 Vgl. ebd., S. 114-116.
39 Nonnulli [...] malos non solum igne materiali apud inferos cremari, sed et verme vero excru-
ciari estimant. Alii vermem ad cruciatum conscientiae interpretantes duplex itidem tormen-
tum, aliud spiritualiter intus, aliud materialiter foris ponunt. Alii spiritualiter utrumque ac-
cipientes taliter igne reprobos uri, qualiter verme rodiputant [...] Michi autem melius sentire
videntur, qui corpus vera flamma, animum cruciari dicunt conscientia. Quia ergo de male
transacta vita immortalis mors rodet conscientiam, igms indeficiens sine fine aduret corpus et
animam, bene propheta dicit: Vermis eorum non morietur, et ignis eorum non extinguetur.
Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, lib. VIII.21, ed. Adolf Hof-
MEiSTER/Walther Lammers, übers. Adolf Schmidt (Ausgewählte Quellen zur Deutschen
Geschichte des Mittelalters 16), Berlin 1960, S. 632-635.
40 Ardebuntque miseri in igne aeterno in aeternum et ultra. In carne cruciabunturper ignem, in
spirituper conscientiae vermem., Meditationes piissimae de cognitione humanae conditionis,
in: PL 184, Sp. 485 A-508 B, cap. III (10), Sp. 492 A; zu diesem Text vgl. Giraud, Spiritualite
(wie Anm. 6), S. 155-170 und passim.
Prophetenwortes, wobei er nicht den Bezug zur Hölle verlor, sondern eine
eigenständige Semantik erlangte, in der seelische Schmerzen im Allgemeinen
und Gewissensqualen im Besonderen unmittelbar auf die Hölle verwiesen.38
Auch Otto von Freising kennt und benennt den Wurm als Inbegriff hölli-
scher Strafen und weiß um dessen ambigues Deutungspotential. So glaubten
manche:
[...] die Bösen würden in der Hölle nicht nur von materiellem Feuer gebrannt,
sondern auch von wirklichen Würmern gepeinigt. Andere deuten die Würmer auf
die Gewissensqualen und nehmen eine doppelte Marter an, eine innere seelische
und eine äußere körperliche. Wieder andere beziehen beide Ausdrücke auf das
Seelische und meinen, die Verworfenen würden ebenso vom Feuer gebrannt wie
von Würmern benagt [...] Mir scheinen die recht zu haben, die der Ansicht sind,
der Leib werde durch richtiges Feuer, die Seele aber durch Gewissensbisse gepei-
nigt. Weil also wegen des in bösem Tun verbrachten Lebens der ewige Tod ihr
Gewissen benagen und ewiges Feuer ohne Ende Leib und Seele brennen werde,
sagt der Prophet mit Recht: „Ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird
nicht verlöschen.“39
Otto plädiert somit für eine Gleichwertigkeit geistlicher und körperlicher Qua-
len und stand mit dieser Sicht nicht allein. Auf den Punkt gebracht findet sich
diese neue Dichotomie in den pseudobernhardischen Meditationes1. Die Ver-
dammten würden, heißt es hier in Übereinstimmung mit der Tradition, für alle
Ewigkeit im ewigen Feuer brennen. Im Fleisch würden sie durch die Flammen
gequält, im Geist aber durch ihr Gewissen, wobei auch hier der Wurm des Ge-
wissens als unmittelbarer Urheber des Leidens Erwähnung fand.40 Der unbe-
kannte Verfasser der pseudo-hugonischen Miscellanea wiederum formulierte,
dass die Hölle in dreifacher Weise zu verstehen sei: als nie sterbenden Wurm, der
38 Vgl. ebd., S. 114-116.
39 Nonnulli [...] malos non solum igne materiali apud inferos cremari, sed et verme vero excru-
ciari estimant. Alii vermem ad cruciatum conscientiae interpretantes duplex itidem tormen-
tum, aliud spiritualiter intus, aliud materialiter foris ponunt. Alii spiritualiter utrumque ac-
cipientes taliter igne reprobos uri, qualiter verme rodiputant [...] Michi autem melius sentire
videntur, qui corpus vera flamma, animum cruciari dicunt conscientia. Quia ergo de male
transacta vita immortalis mors rodet conscientiam, igms indeficiens sine fine aduret corpus et
animam, bene propheta dicit: Vermis eorum non morietur, et ignis eorum non extinguetur.
Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, lib. VIII.21, ed. Adolf Hof-
MEiSTER/Walther Lammers, übers. Adolf Schmidt (Ausgewählte Quellen zur Deutschen
Geschichte des Mittelalters 16), Berlin 1960, S. 632-635.
40 Ardebuntque miseri in igne aeterno in aeternum et ultra. In carne cruciabunturper ignem, in
spirituper conscientiae vermem., Meditationes piissimae de cognitione humanae conditionis,
in: PL 184, Sp. 485 A-508 B, cap. III (10), Sp. 492 A; zu diesem Text vgl. Giraud, Spiritualite
(wie Anm. 6), S. 155-170 und passim.