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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Editor]; Melville, Gert [Editor]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0032
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28 I Mirko Breitenstein

Abaelard verwies damit vor allem auch darauf, dass die Semantik eines Begriffes
wesentlich durch die Umstände seines Gebrauchs bestimmt ist, und vieles von
dem, was in den Schriften des Alten wie Neuen Testaments zu lesen sei, gerade
nicht wörtlich verstanden werde dürfe. Dies traf seiner Ansicht nach insbeson-
dere auch auf den beim Propheten Jesaja (Is 66.24) erwähnten und im Evange-
lium des Markus (Mc 9.47) wieder aufgerufenen „Wurm, der nicht stirbt“ zu.50
Bereits in der Sprache des Evangelisten fungierte der Wurm als Metonym für die
Hölle als realen Strafort, so dass Abaelards Aussage als starkes Plädoyer für
einen metaphorischen Sprachgebrauch in Bezug auf die Hölle gelesen werden
muss: Unter den Bedingungen einer von Makeln freien körperlosen Unsterb-
lichkeit könne es keinen Wurm geben, der körperlich nage. Der Wurm könne
daher - wie auch der „Schoß Abrahams“ - nur unkörperlich verstanden werden.
Doch geht Abaelard noch weiter, wenn er schreibt:
Wenn es aber vom Propheten heißt, er habe unter den Würmern der Seele gewisser-
maßen deren innere Verderbnis verstanden, durch die sie von ihrem Gewissen aus
Verzweiflung an der Vergebung und dem Anwachsen zukünftiger Strafen bereits
jetzt gefoltert werden, und nachher unter dem Feuer dasjenige, wodurch sie dereinst,
wenn sie ihren Körper wiedererlangt haben, gefoltert werden, lässt sich die Unterwelt
leicht als die ebenso geistige wie körperliche Qual der Verdammten bestimmen [,..]51
Damit macht Abaelard deutlich, dass er die vom Gewissen verursachte Ver-
zweiflung neben den künftigen höllischen Strafen nicht nur als gleichwertig be-
greift, sondern dem Gewissen selbst ein Strafvermögen zuweist, das überdies
bereits während des irdischen Lebens wirksam wird. Neben das in der Hölle
leidende Gewissen tritt damit die Hölle als vom Gewissen verursachte Qual.
Das Gewissen selbst wird damit zur Strafinstanz, insofern es dem Menschen all
dicitur infimum., Peter Abelard, Collationes, ed. und übers. John MARENBON/Giovanm
Orlandi (Oxford Medieval Texts), Oxford 2001,11.183, S. 190, 192 (Übersetzung nach Peter
Abailard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, lateinisch und
deutsch, hg. und übertragen von Hans-Wolfgang Krautz, Darmstadt 1995, S. 249, 251), vgl.
hierzu Peter von Moos, Die Collationes Abaelards und die Lage der Juden im 12. Jahrhun-
dert, in: Ders., Abaelard und Heloise. Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 1, hg. von
Gert Melville, Münster 2005, S. 327-377, hier S. 365.
50 Multa quippe depenis inferni tarn Vetus quam Novum narrat Testamentum, que nequaquam
ad literam accipiposse videntur. Quid est enim ad literam quod de lustis et impiis Dominus per
Ysaiam ait, ,Et egredientur et videbunt cadavera eorum quipraevaricati sunt in me; vermis
eorum non morietur et ignis eorum non exstingueturY, Ebd., 11.184, S. 192.
51 Sin autem ,vermes animarum' quandam earum interiorem corrosionem, qua de conscientia
sua et desperatione venie et future pene augmento iam cruciantur, acpostmodum ignem, quo
resumptis corporibus cruciabuntur, intellexisse propheta dicatur, facile est tarn spirituale
quam corporale tormentum dampnatorum definiri infernum [...], Ebd., 11.186, S. 194 (Über-
setzung nach Peter Abailard, Gespräch [wie Anm. 49], S. 255).
 
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