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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0050
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46 I Eva Schlotheuber

geschrieben und kostbar illuminiert worden, sondern auch mit über 800 lateini-
schen Kommentaren in Form feiner in Bilder und Noten verwobener Beischrif-
ten versehen wurden. Die Dominikanerinnen von Paradiese haben in ihre
Chorbücher auch eigene lateinische Sequenzendichtungen als Kontrafaktur ein-
gefügt. Musik, Bild und Text sind dabei in ihren Aussagen kunstvoll, aber sys-
tematisch und durchdacht aufeinander bezogen.36 Die verbal und visuell vermit-
telte Liturgiebedeutung ist auch in der Ikonographie ganz selbständig auf die
eigene Situation angepasst und deshalb oft ohne Vergleichsbeipiele. Die Bedeu-
tungen der Liturgie werden nach dem vierfachen Schriftsinn, Literalsinn {sensus
historicus), dem Bedeutungssinn in Bezug auf die Kirchenlehre {sensus allegori-
cus), der moralischen Bedeutung {sensus tropologicus') und der Ausdeutung in
Bezug auf die letzten Dinge, der eschatologischen Bedeutung {sensus anagogi-
cus), einander zugeordnet. Es handelt sich also um eine komplexe Form der Aus-
legung, um visuelle und verbale Strategien der Liturgieexegese, die in dieser In-
tensität und unter Einbezug aller verfügbaren Medien, Musik, Text und Bild in
der abendländischen Buchkunst ohne Parallele ist. Dieses sich über viele Gene-
rationen ausgebildete Wissen haben die Dominikanerinnen von Paradiese bei
Soest in den für die Gemeinschaft selbst geschriebenen Chorbüchern als ,Kom-
mentar zur Liturgie^ niedergelegt und über Jahrhunderte bis zur Auflösung des
Konvents in der Französischen Revolution als identitätsstiftend aufbewahrt.
3. Wissensvermittlung und Äbtissinnenamt seit der
hoch mittelalterlichen Kirchenreform
Obwohl Hildegard von Bingen nicht müde wurde, in legitimierender Absicht
immer wieder ihre simplicitas und Ungelehrtheit zu betonen, steht es für sie
völlig außer Frage, dass eine Äbtissin der doctrina, also gelehrter theologischer
Bildung bedurfte. Hildegard begründete ihre Berechtigung zu gelehrter Unter-
weisung auf zweifache Weise: Einerseits mit ihrer individuellen Gabe aufgrund
göttlicher Offenbarung und andererseits mit ihrer Korrektur- und ,Ermah-
nungsgewalfl als Vorsteherin der Gemeinschaft. In dem Antwortschreiben Hil-
degards an die Äbtissin von St. Glodesindis in Metz um 1173 weist sie unmiss-
verständlich daraufhin, dass der Äbtissin die Lehre zustehe. Die theologische
Bildung {doctrina) und Gehorsam {obedientid) seien der „natürliche“ Schutz der
Vorsteherinnen und Vorsteher, so wie die Hügel und Berge in der Schlacht
36 Jeffrey HAMBURGER/Eva Schlotheuber et al., Liturgical Life (wie Anm. 2). Vgl. die Verto-
nung dieser Sequenzen Eva ScHLOTHEUBER/Anne Liewert, Musik aus Paradiese: Die mit-
telalterlichen Handschriften der Dominikanerinnen aus Paradiese bei Soest, Münster 2019.
 
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