88 I Jörg Sonntag
Fußend auf dem Geist der Hoheliedpredigten Bernhards von Clairvaux bet-
tet der Autor aus Pontigny seine Erläuterungen zur Benediktsregel in eine atem-
beraubende Welt dieses Hohelieds, der Psalmen und - überhaupt - des Alten
Testaments ein. Lange Wechselreden zwischen Gott und den Propheten, Gott
und den Engeln oder Gott und den Tugenden über die Regel stellen selbige tat-
sächlich in einen ganz eigenen Kosmos, in dem die Regel geradezu heilsge-
schichtliche Bedeutung, auch im Sinne der Distinktion, erhält und vergangene,
gegenwärtige und zukünftige Ereignisse sich vermengen. Der Tanz um das Gol-
dene Kalb, die im roten Meer versinkenden Streitwagen des Pharao, der Unter-
gang Sodoms oder die Apokalypse werden präsent gemacht. Benedikt spricht
der Autor dabei immer wieder als Moyses noster an. Wie Moses die Gesetze
Gottes brachte, bringt nun Benedikt - so suggeriert es der Text - die eigentlich
von Gott verfasste Regel.31
Der Autor reiht diese Benediktsregel Gottes damit nicht nur in eine lang be-
kannte Tradition ein. Auch die Pachomiusregel war Gottes Wort, denn Pacho-
mius habe die Regel von einem Engel diktiert bekommen.32
Franziskus, der alter Christus, macht um die gleiche Zeit wie der Autor in
Pontigny deutlich, dass seine Regel göttlich inspiriert sei. Noch stärker wird
dies später Birgitta von Schweden tun. Unser Autor aber, und das unterscheidet
ihn von allen anderen, beansprucht die Wirkmacht „seiner“ Gottesregel nicht
nur für das Diesseits, sondern eben auch für den Himmel - ein Qualitätswech-
sel, der beeindruckt und eine Autorität verleiht, die seit dem Anbeginn der Zeit
selbst für Engel unhinterfragbar bleibt und die der Autorität des Evangeliums in
nichts nachsteht.
Diese der Benediktsregel zugesprochene Wirkmacht ist in gewisser Weise
selbstreferentiell, bleibt sie doch auf den irdisch-himmlischen Konvent oder,
wenn man so will, auf die Lebenswelt innerhalb der civitas Dei beschränkt, und
einen Auftrag zur „Missionierung“ gibt bekanntermaßen weder die Benedikts-
regel, noch sieht ihn der Kommentator aus Pontigny als gegeben an.
Anders scheint der Fall etwa der Franziskaner, auf den abschließend noch
einmal eingegangen sei: Grundlage ihres auf Armut und Predigt fokussierten
und nicht-klausurierten Lebens war eine Regel, die es mit gerade einmal 12 Ka-
piteln an Ausführlichkeit nicht mit der Benediktsregel aufnehmen kann. An
Heiligkeit gleichwohl schon, zumindest wenn man einen Franziskaner oder
31 Vgl. u. a. ebd., XLVIII, S. 528; siehe auch die Ausführungen zu Benedikt als besseren Moses
ebd., X, S. 233.
32 Vgl. mit zahlreichen Nachweisen Albrecht Diem, Das monastische Experiment. Die Rolle
der Keuschheit bei der Entstehung des westlichen Klosterwesens (Vita regularis. Abhand-
lungen 28), Münster 2000, S. 118.
Fußend auf dem Geist der Hoheliedpredigten Bernhards von Clairvaux bet-
tet der Autor aus Pontigny seine Erläuterungen zur Benediktsregel in eine atem-
beraubende Welt dieses Hohelieds, der Psalmen und - überhaupt - des Alten
Testaments ein. Lange Wechselreden zwischen Gott und den Propheten, Gott
und den Engeln oder Gott und den Tugenden über die Regel stellen selbige tat-
sächlich in einen ganz eigenen Kosmos, in dem die Regel geradezu heilsge-
schichtliche Bedeutung, auch im Sinne der Distinktion, erhält und vergangene,
gegenwärtige und zukünftige Ereignisse sich vermengen. Der Tanz um das Gol-
dene Kalb, die im roten Meer versinkenden Streitwagen des Pharao, der Unter-
gang Sodoms oder die Apokalypse werden präsent gemacht. Benedikt spricht
der Autor dabei immer wieder als Moyses noster an. Wie Moses die Gesetze
Gottes brachte, bringt nun Benedikt - so suggeriert es der Text - die eigentlich
von Gott verfasste Regel.31
Der Autor reiht diese Benediktsregel Gottes damit nicht nur in eine lang be-
kannte Tradition ein. Auch die Pachomiusregel war Gottes Wort, denn Pacho-
mius habe die Regel von einem Engel diktiert bekommen.32
Franziskus, der alter Christus, macht um die gleiche Zeit wie der Autor in
Pontigny deutlich, dass seine Regel göttlich inspiriert sei. Noch stärker wird
dies später Birgitta von Schweden tun. Unser Autor aber, und das unterscheidet
ihn von allen anderen, beansprucht die Wirkmacht „seiner“ Gottesregel nicht
nur für das Diesseits, sondern eben auch für den Himmel - ein Qualitätswech-
sel, der beeindruckt und eine Autorität verleiht, die seit dem Anbeginn der Zeit
selbst für Engel unhinterfragbar bleibt und die der Autorität des Evangeliums in
nichts nachsteht.
Diese der Benediktsregel zugesprochene Wirkmacht ist in gewisser Weise
selbstreferentiell, bleibt sie doch auf den irdisch-himmlischen Konvent oder,
wenn man so will, auf die Lebenswelt innerhalb der civitas Dei beschränkt, und
einen Auftrag zur „Missionierung“ gibt bekanntermaßen weder die Benedikts-
regel, noch sieht ihn der Kommentator aus Pontigny als gegeben an.
Anders scheint der Fall etwa der Franziskaner, auf den abschließend noch
einmal eingegangen sei: Grundlage ihres auf Armut und Predigt fokussierten
und nicht-klausurierten Lebens war eine Regel, die es mit gerade einmal 12 Ka-
piteln an Ausführlichkeit nicht mit der Benediktsregel aufnehmen kann. An
Heiligkeit gleichwohl schon, zumindest wenn man einen Franziskaner oder
31 Vgl. u. a. ebd., XLVIII, S. 528; siehe auch die Ausführungen zu Benedikt als besseren Moses
ebd., X, S. 233.
32 Vgl. mit zahlreichen Nachweisen Albrecht Diem, Das monastische Experiment. Die Rolle
der Keuschheit bei der Entstehung des westlichen Klosterwesens (Vita regularis. Abhand-
lungen 28), Münster 2000, S. 118.