226 I Julia Burkhardt
um sie Predigern „wie das tägliche Brot zur täglichen Erfrischung der Seelen“
zur Verfügung zu stellen.17
Bereits dieser Anspruch greift die beiden ersten Thesen über das exemplarische
Erzählen auf, nämlich die Voraussetzung gemeinschaftlich geteilter Normen und
Traditionen für dessen Funktionieren einerseits und andererseits die zeitunab-
hängige Geltungskraft von Handlungsregeln, auf die sich Akteure in unterschied-
lichen Kontexten einzulassen haben. Noch deutlicher werden diese Mechanismen
jedoch in den von Jakob zusammengetragenen Exempeln. Unter der Überschrift
„Über einen Schinken, der in einer gewissen Stadt hing“ (De bachone qutpende-
bat in quadam villa) findet sich beispielsweise folgende Geschichte:
„Einmal durchquerte ich eine gewisse Stadt in Frankreich, wo man auf der Straße
einen Schinken aufgehängt hatte. Die Bedingung war folgende: Derjenige, der un-
ter Eid bestätigen wolle, dass er ein ganzes Jahr nach der Eheschließung mit seiner
Frau so gelebt hatte, dass er an der Ehe nicht gesündigt hatte, solle den Schinken
bekommen. Und als dieser zehn Jahre lang dort gehangen hatte, hatte sich immer
noch kein Einziger gefunden, der den Schinken gewinnen konnte; denn alle hatten
innerhalb eines Jahres nach Eheschließung gesündigt.“18
Die Tradition der hier eingeforderten Ehetreue ist als gesellschaftliche Norm
auch heute noch präsent und macht Jakobs Geschichte damit auf Anhieb zu-
gänglich. Dieses Faktum illustriert zugleich die zeitunabhängige Geltungskraft
der beschriebenen Norm; der abschließenden klagenden Mahnung des Autors
über die eigene Gegenwart („Siehe, wie wenige heute treu und mit Liebe an ih-
ren Frauen hängen und wie es unser Herr Jesus Christus, der gesegnet sei auf
Ewigkeit, eingerichtet hat.“) bedarf es höchstens noch zur rhetorischen Unter-
mauerung.
Die Handlungsanleitung, die sich aus diesem Exempel ergibt, ist zwar selbst-
verständlich, bleibt jedoch implizit formuliert. Das ist nicht unbedingt typisch,
da durch exemplarische Erzählungen durchaus auch situative Handlungsoptio-
nen bzw. -empfehlungen und damit auch Weisungen in die Zukunft aufgezeigt
werden können (entsprechend der dritten These). Eine solche, weitaus explizi-
tere Darstellung findet sich im Bonum universale de apibus (=BUA) des Thomas
17 Post sermones Dominicales, festiuales et volgares ad tanti operis consummacionem submngere
temptauimus feriales et communies; vt, qui predictorum sermonum multitudinem non potu-
erint uel noluerint habere, bis vltimis et paucis contenti in promptu babeant quasipanem co-
tidianum ad reficiendas animas omni die. Jakob von Vitry, Prolog, Die Exempla (wie
Anm. 16), S. 2.
18 Jakob von Vitry, Die Exempla (wie Anm. 16), Nr. 63, S. 41. Eine vergleichbare Darstellung
eines Schinkens als Preis für eheliche Treue findet sich in Thom. Cantimpr. BUA 11,49,12
(wie Anm. ;:‘).
um sie Predigern „wie das tägliche Brot zur täglichen Erfrischung der Seelen“
zur Verfügung zu stellen.17
Bereits dieser Anspruch greift die beiden ersten Thesen über das exemplarische
Erzählen auf, nämlich die Voraussetzung gemeinschaftlich geteilter Normen und
Traditionen für dessen Funktionieren einerseits und andererseits die zeitunab-
hängige Geltungskraft von Handlungsregeln, auf die sich Akteure in unterschied-
lichen Kontexten einzulassen haben. Noch deutlicher werden diese Mechanismen
jedoch in den von Jakob zusammengetragenen Exempeln. Unter der Überschrift
„Über einen Schinken, der in einer gewissen Stadt hing“ (De bachone qutpende-
bat in quadam villa) findet sich beispielsweise folgende Geschichte:
„Einmal durchquerte ich eine gewisse Stadt in Frankreich, wo man auf der Straße
einen Schinken aufgehängt hatte. Die Bedingung war folgende: Derjenige, der un-
ter Eid bestätigen wolle, dass er ein ganzes Jahr nach der Eheschließung mit seiner
Frau so gelebt hatte, dass er an der Ehe nicht gesündigt hatte, solle den Schinken
bekommen. Und als dieser zehn Jahre lang dort gehangen hatte, hatte sich immer
noch kein Einziger gefunden, der den Schinken gewinnen konnte; denn alle hatten
innerhalb eines Jahres nach Eheschließung gesündigt.“18
Die Tradition der hier eingeforderten Ehetreue ist als gesellschaftliche Norm
auch heute noch präsent und macht Jakobs Geschichte damit auf Anhieb zu-
gänglich. Dieses Faktum illustriert zugleich die zeitunabhängige Geltungskraft
der beschriebenen Norm; der abschließenden klagenden Mahnung des Autors
über die eigene Gegenwart („Siehe, wie wenige heute treu und mit Liebe an ih-
ren Frauen hängen und wie es unser Herr Jesus Christus, der gesegnet sei auf
Ewigkeit, eingerichtet hat.“) bedarf es höchstens noch zur rhetorischen Unter-
mauerung.
Die Handlungsanleitung, die sich aus diesem Exempel ergibt, ist zwar selbst-
verständlich, bleibt jedoch implizit formuliert. Das ist nicht unbedingt typisch,
da durch exemplarische Erzählungen durchaus auch situative Handlungsoptio-
nen bzw. -empfehlungen und damit auch Weisungen in die Zukunft aufgezeigt
werden können (entsprechend der dritten These). Eine solche, weitaus explizi-
tere Darstellung findet sich im Bonum universale de apibus (=BUA) des Thomas
17 Post sermones Dominicales, festiuales et volgares ad tanti operis consummacionem submngere
temptauimus feriales et communies; vt, qui predictorum sermonum multitudinem non potu-
erint uel noluerint habere, bis vltimis et paucis contenti in promptu babeant quasipanem co-
tidianum ad reficiendas animas omni die. Jakob von Vitry, Prolog, Die Exempla (wie
Anm. 16), S. 2.
18 Jakob von Vitry, Die Exempla (wie Anm. 16), Nr. 63, S. 41. Eine vergleichbare Darstellung
eines Schinkens als Preis für eheliche Treue findet sich in Thom. Cantimpr. BUA 11,49,12
(wie Anm. ;:‘).