Die Welt in Geschichten erfassen I 227
von Cantimpre.19 Bei dem „Bienenbuch“, dem ab ca. 1250 entstandenen Spät-
werk des schreibfreudigen Dominikaners, handelt es sich um ein umfangreiches
Kompendium mit Geschichten aus der Alltags- und Vorstellungswelt des
13. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht das rechte Verhältnis von Vorgesetzten
(prelati) und Untergebenen (subditi) in religiösen Gemeinschaften, welches der
Autor anhand des Beispiels der Bienengemeinschaft sowohl idealtypisch zu be-
schreiben als auch moralisierend zu kommentieren versucht. Den eigentlichen
Kern des Werkes machen Mirakelberichte, staunenswerte Exempelgeschichten
und legendenhafte Heiligenerzählungen aus, angereichert mit Bibel- und Kir-
chenväterzitaten, Paraphrasen oder Adaptionen von klassischen Autoren der
Antike und schließlich Ausdeutungen von Thomas selbst. Das „Leitmotiv“ für
all diese Erzählstücke stellt der Blick auf das Wesen von Bienen und ihr gemein-
schaftliches Zusammenleben dar. Entsprechend werden in jedem Kapitel Beob-
achtungen und Erkenntnisse über Bienengemeinschaften auf Formen und Nor-
men menschlicher Gemeinschaften projiziert.
In BUA 11,43 setzt sich Thomas unter dem Lemma „Die (frommen) Bienen
kennen die Zeiten im Voraus“ mit der Herausforderung auseinander, dass das
ganze Leben auf allen Zeitebenen, also „in Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft durch vorsorgende Umsicht geschützt werden muss“.20 Zur Erläuterung
dieser Anforderung berichtet Thomas von einem jungen König, der auf einem
Markt einen alten Mann sitzen sieht und ihn fragt, was er zu verkaufen habe. Als
der alte Mann sich als Philosoph zu erkennen gibt und behauptet, Weisheit im
Angebot zu haben, wird der junge König neugierig und erkauft für 100 Mark
folgenden Ratschlag: „Sprich nichts planlos, versuche nichts planlos, ohne zuvor
nachzudenken, was folgt“ (Temere nil loquaris, temere ml attemptes, nisi prius
cogites, quid sequatur). Beeindruckt von der Gewichtigkeit dieses Ratschlages
lässt der junge König das gekaufte Sprichwort in die Türbalken des Palastes, in
Tische, in goldene Becher und in Handtücher einprägen. Er entwickelt sich zu
einem tugendhaften und weisen Herrscher, wird aber im Laufe der Zeit mit ei-
ner wachsenden Adelsopposition konfrontiert, aus der eines Tages sogar ein
Mordkomplott hervorgeht. Weiter heißt es:
„Die Adeligen heuerten insgeheim einen gewissen Barbier an, damit er den
König in seinem Gemach beim Rasieren mit dem Rasiermesser töte. Als der König
sich also mit gewaschenem und geglättetem Bart zum Rasieren begab, las der be-
19 S. zum Werk ausführlich Burkhardt, Von Bienen lernen (wie Anm. *), Teilband 1. Im Fol-
genden wird unter Angabe von Buch (I bzw. II), Kapitel und Unterkapitel nach der Neuedi-
tion in meiner Habilitationsschrift, ebd., Teilband 2, zitiert.
20 Thom. Cantimpr. BUA 11,43,1 (wie Anm. *): ... quo perlucide datur intelligi, omnem mlam
nostram et preterritis, presentibus et futuris oportere provida circumspectione muniri.
von Cantimpre.19 Bei dem „Bienenbuch“, dem ab ca. 1250 entstandenen Spät-
werk des schreibfreudigen Dominikaners, handelt es sich um ein umfangreiches
Kompendium mit Geschichten aus der Alltags- und Vorstellungswelt des
13. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht das rechte Verhältnis von Vorgesetzten
(prelati) und Untergebenen (subditi) in religiösen Gemeinschaften, welches der
Autor anhand des Beispiels der Bienengemeinschaft sowohl idealtypisch zu be-
schreiben als auch moralisierend zu kommentieren versucht. Den eigentlichen
Kern des Werkes machen Mirakelberichte, staunenswerte Exempelgeschichten
und legendenhafte Heiligenerzählungen aus, angereichert mit Bibel- und Kir-
chenväterzitaten, Paraphrasen oder Adaptionen von klassischen Autoren der
Antike und schließlich Ausdeutungen von Thomas selbst. Das „Leitmotiv“ für
all diese Erzählstücke stellt der Blick auf das Wesen von Bienen und ihr gemein-
schaftliches Zusammenleben dar. Entsprechend werden in jedem Kapitel Beob-
achtungen und Erkenntnisse über Bienengemeinschaften auf Formen und Nor-
men menschlicher Gemeinschaften projiziert.
In BUA 11,43 setzt sich Thomas unter dem Lemma „Die (frommen) Bienen
kennen die Zeiten im Voraus“ mit der Herausforderung auseinander, dass das
ganze Leben auf allen Zeitebenen, also „in Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft durch vorsorgende Umsicht geschützt werden muss“.20 Zur Erläuterung
dieser Anforderung berichtet Thomas von einem jungen König, der auf einem
Markt einen alten Mann sitzen sieht und ihn fragt, was er zu verkaufen habe. Als
der alte Mann sich als Philosoph zu erkennen gibt und behauptet, Weisheit im
Angebot zu haben, wird der junge König neugierig und erkauft für 100 Mark
folgenden Ratschlag: „Sprich nichts planlos, versuche nichts planlos, ohne zuvor
nachzudenken, was folgt“ (Temere nil loquaris, temere ml attemptes, nisi prius
cogites, quid sequatur). Beeindruckt von der Gewichtigkeit dieses Ratschlages
lässt der junge König das gekaufte Sprichwort in die Türbalken des Palastes, in
Tische, in goldene Becher und in Handtücher einprägen. Er entwickelt sich zu
einem tugendhaften und weisen Herrscher, wird aber im Laufe der Zeit mit ei-
ner wachsenden Adelsopposition konfrontiert, aus der eines Tages sogar ein
Mordkomplott hervorgeht. Weiter heißt es:
„Die Adeligen heuerten insgeheim einen gewissen Barbier an, damit er den
König in seinem Gemach beim Rasieren mit dem Rasiermesser töte. Als der König
sich also mit gewaschenem und geglättetem Bart zum Rasieren begab, las der be-
19 S. zum Werk ausführlich Burkhardt, Von Bienen lernen (wie Anm. *), Teilband 1. Im Fol-
genden wird unter Angabe von Buch (I bzw. II), Kapitel und Unterkapitel nach der Neuedi-
tion in meiner Habilitationsschrift, ebd., Teilband 2, zitiert.
20 Thom. Cantimpr. BUA 11,43,1 (wie Anm. *): ... quo perlucide datur intelligi, omnem mlam
nostram et preterritis, presentibus et futuris oportere provida circumspectione muniri.