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II. Das Werk
direkter Weise adressiert Johannes dagegen den Leser, der sich über die eingeforder-
ten Handlungsmaximen eines Herrschers wie Maßhaltung, Kontrolle des Gemeinwe-
sens oder bedachtes Agieren auch in anderen Werken informieren soll. Dabei stellt er
die Bienengemeinschaft nicht nur mit menschlichen Attributen dar, sondern überhöht
sie moralisch. Auf diese Weise wird das staatliche Leben nicht einfach zu einem
Abbild der Natur, sondern beinahe zu einem „ethischen Projekt“.95
IL2.3. Die Milde des Königs: Der Fürstenspiegel des Gilbert von Tournai
Rund einhundert Jahre nach Johannes und mutmaßlich von der Strahlkraft seines Po-
licraticus auf die Gattung der Fürstenspiegelliteratur beeinflusst,96 verfasste Gilbert
von Tournai (gest. 1284) seine „Erziehung der Könige und Prinzen“ (Eruditio regum et
principum). Gilbert, der an der Pariser Universität studiert hatte und um 1240 in den
Orden der Franziskaner eingetreten war, hatte als Verfasser verschiedener Abhandlun-
gen zu Erziehung und Moral sowie etlicher Predigten reüssiert.97 Auch seine Eruditio
fügt sich in diesen Kontext ein. Das in drei Briefe untergliederte Werk thematisiert die
zentralen Prinzipien herrscherlichen Handelns. Adressat dieser Briefe ist König Lud-
wig IX. von Frankreich (1214-1270), den Gilbert vermutlich im Zuge von dessen
Kreuzzug nach Ägypten und ins Heilige Land (1248-1254) kennengelernt hatte.98
In erkennbarer Anlehnung an den Policraticus und dessen Quellen benennt Gil-
bert vier Maximen, die für weltliche Herrscher maßgeblich sein sollen: Ehrfurcht
gegenüber Gott, Selbstbeherrschung (beides Brief 1), Disziplinierung und Kontrolle
der Amtsträger (Brief 2) sowie eine schützende Fürsorge für die Untertanen (Brief 3).
Um seine Argumentation zu stützen, greift Gilbert im gesamten Text auf christliche
Texte ebenso zurück wie auf „heidnische“ Vorlagen aus der Antike. Hierin zeigt sich
auch eine der Innovationsleistungen Gilberts: Es gelang ihm, antike Herrschaftside-
ale wie dasjenige Senecas sinnhaft mit christlichen Wertungen zu verbinden oder
herrschaftstheoretische Überlegungen durch biblische Kernstellen zu stützen 99
Im zweiten Brief, welcher dem Verhältnis von König und Amtsträgern sowie Höf-
lingen gewidmet ist, verwendet Gilbert an mehreren Stellen Tiervergleiche. Im ersten
Teil dieses Briefes legt er mit dem Pflichtgefühl der Untergebenen gegenüber der
Strenge des Königs die Grundlagen dieses Miteinanders dar und benennt negative
Aspekte und Charaktere des Hoflebens. Sinnbildlich für höfische Schmeichler und
Lügner stehen dabei eher unangenehme Tiere wie beispielsweise Tausendfüßler oder
95 Seit, Einleitung, S. 24.
96 S. hierzu Lachaud, Filiation and Context, S. 404-405.
97 S. dazu Schmidt, Allegorie und Empirie, S. 314-316.
98 S. Anton, Einleitung, S. 32-34 sowie ausführlich LeGoff, Ludwig der Heilige, S. 359-367.
99 Zur Bezugnahme Gilberts auf Johannes von Salisbury oder Helinand de Froidmont s. Anton, Ein-
leitung, S. 29 sowie Lachaud, Filiation and Context, S. 404-405.
II. Das Werk
direkter Weise adressiert Johannes dagegen den Leser, der sich über die eingeforder-
ten Handlungsmaximen eines Herrschers wie Maßhaltung, Kontrolle des Gemeinwe-
sens oder bedachtes Agieren auch in anderen Werken informieren soll. Dabei stellt er
die Bienengemeinschaft nicht nur mit menschlichen Attributen dar, sondern überhöht
sie moralisch. Auf diese Weise wird das staatliche Leben nicht einfach zu einem
Abbild der Natur, sondern beinahe zu einem „ethischen Projekt“.95
IL2.3. Die Milde des Königs: Der Fürstenspiegel des Gilbert von Tournai
Rund einhundert Jahre nach Johannes und mutmaßlich von der Strahlkraft seines Po-
licraticus auf die Gattung der Fürstenspiegelliteratur beeinflusst,96 verfasste Gilbert
von Tournai (gest. 1284) seine „Erziehung der Könige und Prinzen“ (Eruditio regum et
principum). Gilbert, der an der Pariser Universität studiert hatte und um 1240 in den
Orden der Franziskaner eingetreten war, hatte als Verfasser verschiedener Abhandlun-
gen zu Erziehung und Moral sowie etlicher Predigten reüssiert.97 Auch seine Eruditio
fügt sich in diesen Kontext ein. Das in drei Briefe untergliederte Werk thematisiert die
zentralen Prinzipien herrscherlichen Handelns. Adressat dieser Briefe ist König Lud-
wig IX. von Frankreich (1214-1270), den Gilbert vermutlich im Zuge von dessen
Kreuzzug nach Ägypten und ins Heilige Land (1248-1254) kennengelernt hatte.98
In erkennbarer Anlehnung an den Policraticus und dessen Quellen benennt Gil-
bert vier Maximen, die für weltliche Herrscher maßgeblich sein sollen: Ehrfurcht
gegenüber Gott, Selbstbeherrschung (beides Brief 1), Disziplinierung und Kontrolle
der Amtsträger (Brief 2) sowie eine schützende Fürsorge für die Untertanen (Brief 3).
Um seine Argumentation zu stützen, greift Gilbert im gesamten Text auf christliche
Texte ebenso zurück wie auf „heidnische“ Vorlagen aus der Antike. Hierin zeigt sich
auch eine der Innovationsleistungen Gilberts: Es gelang ihm, antike Herrschaftside-
ale wie dasjenige Senecas sinnhaft mit christlichen Wertungen zu verbinden oder
herrschaftstheoretische Überlegungen durch biblische Kernstellen zu stützen 99
Im zweiten Brief, welcher dem Verhältnis von König und Amtsträgern sowie Höf-
lingen gewidmet ist, verwendet Gilbert an mehreren Stellen Tiervergleiche. Im ersten
Teil dieses Briefes legt er mit dem Pflichtgefühl der Untergebenen gegenüber der
Strenge des Königs die Grundlagen dieses Miteinanders dar und benennt negative
Aspekte und Charaktere des Hoflebens. Sinnbildlich für höfische Schmeichler und
Lügner stehen dabei eher unangenehme Tiere wie beispielsweise Tausendfüßler oder
95 Seit, Einleitung, S. 24.
96 S. hierzu Lachaud, Filiation and Context, S. 404-405.
97 S. dazu Schmidt, Allegorie und Empirie, S. 314-316.
98 S. Anton, Einleitung, S. 32-34 sowie ausführlich LeGoff, Ludwig der Heilige, S. 359-367.
99 Zur Bezugnahme Gilberts auf Johannes von Salisbury oder Helinand de Froidmont s. Anton, Ein-
leitung, S. 29 sowie Lachaud, Filiation and Context, S. 404-405.