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welch heiliges, welch großartig und angenehm strahlendes Antlitz würden
wir sehen?“ Wer auch immer also mit etwas davon belehrt wird und keinen
Nutzen daraus zieht, ist schlechter als jeder Verrückte.
[4] Über die Art einer Wahl und einen Gewählten unserer Zeit will ich
etwas Denkwürdiges berichten, das ich aus der Erzählung des edlen und 5
heiligen Mannes Philipp, eines Ritters aus Montmirail,4 erfahren habe. Es
gibt eine weithin bekannte Stadt mit dem Namen Le Mans, die früher dem
König von England, nun aber der Herrschaft des Königs von Frankreich
untersteht5. Über viele Jahre hinweg war sie ohne wirkliches Pfarrleben
erschlafft. Nach dem Tod des Bischofs aber stand der Tag der Wahl bevor. 10
Aber weil es ja kaum irgendeine Versammlung gibt, die in personeller
Hinsicht so verödet ist, dass sie nicht wenigstens einen hat, der aus der
Frömmigkeit des Sohnes an der mütterlichen Mangelhaftigkeit der Kirche
leidet und sich über den Fortschritt freut, kam in der Tat ein gewisser
Kanoniker jener Kirche zu einer Rekluse, die für ihre Heiligkeit 15
hochberühmt war, um für die Wahl eines angemessenen Bischofs zu bitten.
Jene zeigte sich durch seine Bitten bewegt und sprach, nachdem sie sich
vom Gebet zurückgewandt hatte, Folgendes: „Mein Teuerster, ich selbst
sah, in den Himmel entrissen, wie die Heilige Jungfrau Maria, die Patronin
unserer Kirche, zu den Füßen des Sohnes sank, um die übertragene Aufgabe 20
zu erbitten. Ihr Sohn aber erhob sich würdevoll und sprach: ,Es wird an dir
sein, Mutter und Herrin, aufzustellen, wen auch immer du willst/ Die
Mutter Christi ging also mit den heiligen Engeln davon, gleichsam um alles
zu unternehmen; sie drehte sich jedoch noch einmal um und sagte: ,Ich
meine, mein Sohn, dass auf den Rat der Heiligen hin Mauritius, einst 25
Erzdiakon von Troyes6, mit dem Bistum von Le Mans betraut werden soll/
Und ihr Sohn sagte: ,Du hast würdig deine Wahl getroffen; so soll es
geschehen/“
‘Philipp von Montmirail, Ritter aus Brabant, der in mehreren Werken des Thomas vorkommt,
historisch aber schwer zu identifizieren ist. S. hierzu TOLONEN, Secret Lineage, S. 72-75;
BURKHARDT, Predigerbrüder, S. 191 sowie Thom. Cantimpr Vita loannis 11,8,37-110. S. auch
Thom. Cantimpr. BUA 11,38,2 sowie die Erwähnung Philipps durch den Dominikaner Stephan
von Bourbon OP (um 1180 oder 1190/95-1261) in seinem zeitgenössischen Predigertraktat, dem
Tractatus de diversis materiis praedicabilibus: Stephani de Borbone Tractatus 1,1, l. 464-478. Zu
Stephan s. außerdem Kapitel II. 1. der Einleitung zur Edition. | -'Seit der Niederlage Johanns
„Ohneland“ (1167-1216), König von England, gegen Philipp II. Augustus (1165-1223), König
von Frankreich seit 1180, im Jahr 1203 wieder französisch. S. dazu BALDWIN, Government, S.
191-196. | ^Mauritius, Bischof von Le Mans (1216-1231/4) und Erzbischof von Rouen
(1231-1235). Vgl. Gallia Christiana XI, Sp. 62f. sowie POMMERAYE, Histoire des archeveques de
Rouen, S. 453-460. Eine differenzierte Beurteilung der von Thomas geschilderten Episode bietet
PELTZER, Canon Law, S. 192-193.
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welch heiliges, welch großartig und angenehm strahlendes Antlitz würden
wir sehen?“ Wer auch immer also mit etwas davon belehrt wird und keinen
Nutzen daraus zieht, ist schlechter als jeder Verrückte.
[4] Über die Art einer Wahl und einen Gewählten unserer Zeit will ich
etwas Denkwürdiges berichten, das ich aus der Erzählung des edlen und 5
heiligen Mannes Philipp, eines Ritters aus Montmirail,4 erfahren habe. Es
gibt eine weithin bekannte Stadt mit dem Namen Le Mans, die früher dem
König von England, nun aber der Herrschaft des Königs von Frankreich
untersteht5. Über viele Jahre hinweg war sie ohne wirkliches Pfarrleben
erschlafft. Nach dem Tod des Bischofs aber stand der Tag der Wahl bevor. 10
Aber weil es ja kaum irgendeine Versammlung gibt, die in personeller
Hinsicht so verödet ist, dass sie nicht wenigstens einen hat, der aus der
Frömmigkeit des Sohnes an der mütterlichen Mangelhaftigkeit der Kirche
leidet und sich über den Fortschritt freut, kam in der Tat ein gewisser
Kanoniker jener Kirche zu einer Rekluse, die für ihre Heiligkeit 15
hochberühmt war, um für die Wahl eines angemessenen Bischofs zu bitten.
Jene zeigte sich durch seine Bitten bewegt und sprach, nachdem sie sich
vom Gebet zurückgewandt hatte, Folgendes: „Mein Teuerster, ich selbst
sah, in den Himmel entrissen, wie die Heilige Jungfrau Maria, die Patronin
unserer Kirche, zu den Füßen des Sohnes sank, um die übertragene Aufgabe 20
zu erbitten. Ihr Sohn aber erhob sich würdevoll und sprach: ,Es wird an dir
sein, Mutter und Herrin, aufzustellen, wen auch immer du willst/ Die
Mutter Christi ging also mit den heiligen Engeln davon, gleichsam um alles
zu unternehmen; sie drehte sich jedoch noch einmal um und sagte: ,Ich
meine, mein Sohn, dass auf den Rat der Heiligen hin Mauritius, einst 25
Erzdiakon von Troyes6, mit dem Bistum von Le Mans betraut werden soll/
Und ihr Sohn sagte: ,Du hast würdig deine Wahl getroffen; so soll es
geschehen/“
‘Philipp von Montmirail, Ritter aus Brabant, der in mehreren Werken des Thomas vorkommt,
historisch aber schwer zu identifizieren ist. S. hierzu TOLONEN, Secret Lineage, S. 72-75;
BURKHARDT, Predigerbrüder, S. 191 sowie Thom. Cantimpr Vita loannis 11,8,37-110. S. auch
Thom. Cantimpr. BUA 11,38,2 sowie die Erwähnung Philipps durch den Dominikaner Stephan
von Bourbon OP (um 1180 oder 1190/95-1261) in seinem zeitgenössischen Predigertraktat, dem
Tractatus de diversis materiis praedicabilibus: Stephani de Borbone Tractatus 1,1, l. 464-478. Zu
Stephan s. außerdem Kapitel II. 1. der Einleitung zur Edition. | -'Seit der Niederlage Johanns
„Ohneland“ (1167-1216), König von England, gegen Philipp II. Augustus (1165-1223), König
von Frankreich seit 1180, im Jahr 1203 wieder französisch. S. dazu BALDWIN, Government, S.
191-196. | ^Mauritius, Bischof von Le Mans (1216-1231/4) und Erzbischof von Rouen
(1231-1235). Vgl. Gallia Christiana XI, Sp. 62f. sowie POMMERAYE, Histoire des archeveques de
Rouen, S. 453-460. Eine differenzierte Beurteilung der von Thomas geschilderten Episode bietet
PELTZER, Canon Law, S. 192-193.