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[3] Daher geschah es, dass etliche Kanoniker nicht imstande waren, sich
über die Wahl des Bischofs zu einigen; sie übertrugen in dieser Lage einzeln
ihre Stimmen auf den Propst und den Dekan, um keinen außerhalb des
Kreises der Kirche ersuchen zu müssen.* 2 Gegen jene aber, die sich abseits
zurückzogen, um freier über die Wahl des Bischofs zu verfügen, erhob einer 5
von den Kanonikern die Anklage, dass sich der Zeitpunkt des Frühstücks
vom bisherigen unterscheide; er rannte außerhalb des Kapitels in die nächste
Taverne und setzte sich nach der Einnahme des Frühstücks zum
Würfelspiel. Er war nämlich ein junger Mann von höchst wankelmütiger
Lebensweise, verfügte jedoch über einen über die Maße wundersamen 10
Verstand, war allem gegenüber leutselig und beispiellos mit natürlicher
Sittlichkeit ausgestattet. Als aber der Propst und der Dekan, nachdem sie
sich geeinigt hatten, sahen, dass sie unter den ihren keinen geistlichen oder
geeigneten Kandidaten finden konnten, kamen sie darin überein, jenen
jungen Kanoniker, der von so wundersamen Verstand war, zum Bischof zu 15
wählen. Also wurde das Ergebnis im Kapitel bekanntgegeben, eine festliche
Prozession organisiert und sie machten sich in der Prozession zur Taverne
auf. Dort fanden sie den jungen Mann, seiner Spielfreude bloßgestellt und
rissen ihn, obgleich er sich unter Tränen widersetzte, in die Luft, trugen ihn
zu Kirche, versammelten sich in der Bischofskirche und so wurde er an 20
einem geeigneten Zeitpunkt geweiht.
Dieser verwandelte sich sofort, als er sah, dass er Bischof war, in einen
„anderen Mann“. Alles, das seines Amtes würdig war, regelte er bei sich so
vollendet, dass keine Spur seines alten Lebens zurückblieb. Stattdessen hätte
man denken können, er hätte dem Bistum schon die ganze Zeit 25
vorgestanden. Von außen aber regelte er die Angelegenheiten des Bistums
auf eine solche Weise, dass nichts davon die Ausübung der geistlichen
Angelegenheiten behinderte. Was war außerordentlich daran? Indem das
Geschenk der uneigennützigen Tugend dazukam, bildete es eine
Übereinstimmung mit dem natürlich Guten. Darüber sagt Seneca3: „Wenn 30
thematisiert wird in der folgenden Geschichte das Prinzip der Bischofswahl durch das
Domkapitel, welches beim IV. Laterankonzil 1215 noch einmal bestätigt worden war. S. dazu
ANGENENDT, Bischofswahl, BECKER, Art. „Bischofsernennung" sowie ERKENS, Bischofswahl.
3Lucius Annaeus Seneca der Jüngere (gest. 65 n. Chr), s. Anm. 1.
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[3] Daher geschah es, dass etliche Kanoniker nicht imstande waren, sich
über die Wahl des Bischofs zu einigen; sie übertrugen in dieser Lage einzeln
ihre Stimmen auf den Propst und den Dekan, um keinen außerhalb des
Kreises der Kirche ersuchen zu müssen.* 2 Gegen jene aber, die sich abseits
zurückzogen, um freier über die Wahl des Bischofs zu verfügen, erhob einer 5
von den Kanonikern die Anklage, dass sich der Zeitpunkt des Frühstücks
vom bisherigen unterscheide; er rannte außerhalb des Kapitels in die nächste
Taverne und setzte sich nach der Einnahme des Frühstücks zum
Würfelspiel. Er war nämlich ein junger Mann von höchst wankelmütiger
Lebensweise, verfügte jedoch über einen über die Maße wundersamen 10
Verstand, war allem gegenüber leutselig und beispiellos mit natürlicher
Sittlichkeit ausgestattet. Als aber der Propst und der Dekan, nachdem sie
sich geeinigt hatten, sahen, dass sie unter den ihren keinen geistlichen oder
geeigneten Kandidaten finden konnten, kamen sie darin überein, jenen
jungen Kanoniker, der von so wundersamen Verstand war, zum Bischof zu 15
wählen. Also wurde das Ergebnis im Kapitel bekanntgegeben, eine festliche
Prozession organisiert und sie machten sich in der Prozession zur Taverne
auf. Dort fanden sie den jungen Mann, seiner Spielfreude bloßgestellt und
rissen ihn, obgleich er sich unter Tränen widersetzte, in die Luft, trugen ihn
zu Kirche, versammelten sich in der Bischofskirche und so wurde er an 20
einem geeigneten Zeitpunkt geweiht.
Dieser verwandelte sich sofort, als er sah, dass er Bischof war, in einen
„anderen Mann“. Alles, das seines Amtes würdig war, regelte er bei sich so
vollendet, dass keine Spur seines alten Lebens zurückblieb. Stattdessen hätte
man denken können, er hätte dem Bistum schon die ganze Zeit 25
vorgestanden. Von außen aber regelte er die Angelegenheiten des Bistums
auf eine solche Weise, dass nichts davon die Ausübung der geistlichen
Angelegenheiten behinderte. Was war außerordentlich daran? Indem das
Geschenk der uneigennützigen Tugend dazukam, bildete es eine
Übereinstimmung mit dem natürlich Guten. Darüber sagt Seneca3: „Wenn 30
thematisiert wird in der folgenden Geschichte das Prinzip der Bischofswahl durch das
Domkapitel, welches beim IV. Laterankonzil 1215 noch einmal bestätigt worden war. S. dazu
ANGENENDT, Bischofswahl, BECKER, Art. „Bischofsernennung" sowie ERKENS, Bischofswahl.
3Lucius Annaeus Seneca der Jüngere (gest. 65 n. Chr), s. Anm. 1.