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tausend Menschen einem kleinen Steuerruder an. Auf welche Weise man
jedoch gehorchen muss, das verhieß der Herr im Buch Exodus sowohl
Moses als auch Aaron bildlich, indem er sagte: „Ohne deinen Willen soll
niemand seinen Fuß oder seine Hand in ganz Ägypten regen.“ Moses und
Aaron behalten die Gestalt der Vorsteher, auf deren Befehl hin ein jeder 5
Untertan angehalten ist, in all seinen Taten einfach dem Guten folgsam zu
sein. Dieser Gehorsam erstreckt sich in gewissen Orden, wie zum Beispiel
im Orden der Prediger und Minderbrüder, bis zum Tod.1 In anderen Orden
jedoch ist das keineswegs so. Und erkenne den Grund, warum der Mensch
einem Menschen gehorchen muss. Wie nämlich im Buch der Richter gesagt 10
wird: „Wenn der Herr auf die Stimme des Menschen hört“, sind Sonne und
Mond auf ihrer Laufbahn gehemmt.
[2] Auf welches Übel aber in unserer Zeit ein gewisser Mensch, der sich
durch Ungehorsam wenig vorsah, stieß, davon wollen wir kurz berichten:
Der ehrwürdige Fulco, gebürtig aus Gent, war Kanoniker in Lille.2 Als 15
dieser, wie uns selbst jemand über ihn berichtete, von Magister Jakob von
Vitry, dem Legaten und Kreuzprediger gegen die Albigenser,3 gebeten
wurde, mit ihm in ganz Flandern das Kreuz zu predigen, lehnte er ab. Als
Jakob ihn auch durch Freunde bedrängte, ihn bei einer so dringenden und
frommen Aufgabe der Kirche anzuhören, lehnte Fulco ein zweites Mal ab 20
und erklärte, dass er dies auf keinen Fall tun werde. Daraufhin sagte
Magister Jakob, der zuversichtlich war, dass jener ein Gebot mehr fürchten
werde, Folgendes: „Und ich gebiete euch mit der Autorität, über welche ich
verfüge, dass ihr im Namen Jesu Christi jene Aufgabe zum Erlass all eurer
Sünden annehmt.“ Ihm antwortete der Herr Fulco: „Ich nehme diese 25
Aufgabe auf keinen Fall an und ich bitte euch, dass ihr mich nicht weiter
damit quält.“ Bald darauf wurde Magister Jakob im Herzen tiefbewegt und
antwortete ihm, beinahe zu Tränen gerührt, Folgendes: „Selbst wenn ich
euch mit der Autorität, die ihr mir anvertraut habt, zumindest
exkommunizieren und jeder Pfründe berauben könnte, da ihr in eurem 30
Uum Stellenwert des Gehorsamsprinzips in den Orden der Dominikaner und Franziskaner s.
VARGAS, Weak obedience sowie RÖHRKASTEN, Authority and obedience. | Haut PLATELLE, Les
exemples, S. 279, ist hier Foulques Utenhove gemeint, der Kanoniker in Saint-Pierre in Lille
war Zu Beginn des 13. Jahrhunderts ist Foulques als Schreiber bzw. Zeuge von Urkunden am
gräflichen Hof in Flandern und Hennegau belegt. S. dazu De PAERMENTIER, Une chancellerie
complexe, S. 41 sowie RICHARD, Histoires du couvent, S. 115. | 'Jakob von Vitry
(1160 70-1240), Regularkanoniker und Kreuzzugsprediger, seit 1216 Bischof von Akkon, seit
1228 Kardinalbischof von Tusculum. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA
prolog.
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tausend Menschen einem kleinen Steuerruder an. Auf welche Weise man
jedoch gehorchen muss, das verhieß der Herr im Buch Exodus sowohl
Moses als auch Aaron bildlich, indem er sagte: „Ohne deinen Willen soll
niemand seinen Fuß oder seine Hand in ganz Ägypten regen.“ Moses und
Aaron behalten die Gestalt der Vorsteher, auf deren Befehl hin ein jeder 5
Untertan angehalten ist, in all seinen Taten einfach dem Guten folgsam zu
sein. Dieser Gehorsam erstreckt sich in gewissen Orden, wie zum Beispiel
im Orden der Prediger und Minderbrüder, bis zum Tod.1 In anderen Orden
jedoch ist das keineswegs so. Und erkenne den Grund, warum der Mensch
einem Menschen gehorchen muss. Wie nämlich im Buch der Richter gesagt 10
wird: „Wenn der Herr auf die Stimme des Menschen hört“, sind Sonne und
Mond auf ihrer Laufbahn gehemmt.
[2] Auf welches Übel aber in unserer Zeit ein gewisser Mensch, der sich
durch Ungehorsam wenig vorsah, stieß, davon wollen wir kurz berichten:
Der ehrwürdige Fulco, gebürtig aus Gent, war Kanoniker in Lille.2 Als 15
dieser, wie uns selbst jemand über ihn berichtete, von Magister Jakob von
Vitry, dem Legaten und Kreuzprediger gegen die Albigenser,3 gebeten
wurde, mit ihm in ganz Flandern das Kreuz zu predigen, lehnte er ab. Als
Jakob ihn auch durch Freunde bedrängte, ihn bei einer so dringenden und
frommen Aufgabe der Kirche anzuhören, lehnte Fulco ein zweites Mal ab 20
und erklärte, dass er dies auf keinen Fall tun werde. Daraufhin sagte
Magister Jakob, der zuversichtlich war, dass jener ein Gebot mehr fürchten
werde, Folgendes: „Und ich gebiete euch mit der Autorität, über welche ich
verfüge, dass ihr im Namen Jesu Christi jene Aufgabe zum Erlass all eurer
Sünden annehmt.“ Ihm antwortete der Herr Fulco: „Ich nehme diese 25
Aufgabe auf keinen Fall an und ich bitte euch, dass ihr mich nicht weiter
damit quält.“ Bald darauf wurde Magister Jakob im Herzen tiefbewegt und
antwortete ihm, beinahe zu Tränen gerührt, Folgendes: „Selbst wenn ich
euch mit der Autorität, die ihr mir anvertraut habt, zumindest
exkommunizieren und jeder Pfründe berauben könnte, da ihr in eurem 30
Uum Stellenwert des Gehorsamsprinzips in den Orden der Dominikaner und Franziskaner s.
VARGAS, Weak obedience sowie RÖHRKASTEN, Authority and obedience. | Haut PLATELLE, Les
exemples, S. 279, ist hier Foulques Utenhove gemeint, der Kanoniker in Saint-Pierre in Lille
war Zu Beginn des 13. Jahrhunderts ist Foulques als Schreiber bzw. Zeuge von Urkunden am
gräflichen Hof in Flandern und Hennegau belegt. S. dazu De PAERMENTIER, Une chancellerie
complexe, S. 41 sowie RICHARD, Histoires du couvent, S. 115. | 'Jakob von Vitry
(1160 70-1240), Regularkanoniker und Kreuzzugsprediger, seit 1216 Bischof von Akkon, seit
1228 Kardinalbischof von Tusculum. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA
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