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anvertraut hatten, dem Herrn vor, damit er diese durch seine Milde vor
jedwedem Unheil schütze. Und höre das höchst erstaunliche Wunder, das
jene mir selbst berichtete. In einem Moment, da sie an jene Menschen in
Gebeten dachte, nahm sie einen Mangel an Tugend oder Gunst so merklich
wahr, als wenn sie eine körperliche Verletzung in irgendeinem Gelenk oder 5
Glied ihres Körpers fühlte. Deswegen weiß ich mit absoluter Sicherheit,
dass durch ihre Gebete viele Menschen von sehr langanhaltenden
Versuchungen, Gefahren oder Unheil befreit wurden.
[3] Über sie wurde von allen Menschen ein unzweifelhaftes Wunder
überliefert. Sie war die Tochter eines bitterarmen Mannes, und als sie ein 10
etwa siebenjähriges Mädchen war, wurde ihr Geist im Inneren von einem
wundersamen Eifer ergriffen; sie bat daher ihren Vater unter Tränen, ihr ein
Psalterbuch zu beschaffen.3 Darauf sagte der Vater: „Woher soll ich dir,
Tochter, ein Psalterbuch beschaffen, wo ich dir doch kaum ausreichend Brot
besorgen kann?“ Bald betete jene demütig zur Mutter Christi gewandt und 15
sagte: „O heilige Maria, Mutter Christi, gib mir ein Psalterbuch, da es mir
der Vater nicht geben kann, und ich will auf ewig deine Magd sein.“ Sie
blieb ein Jahr lang bei dieser aufrichtigen Bitte und siehe, im Schlaf
erschien ihr die heilige Jungfrau Maria, die, wie es ihr schien, in der Hand
zwei Psalterbücher hielt und zu ihr sagte: „Nimm nun an dich, meine 20
Tochter, welches auch immer von den beiden du wählst.“ Und als sie sofort
mit größtem Jubel ein Buch auswählte, verschwand die heilige Jungfrau, das
Mädchen aber erwachte aus dem Schlaf und fand nichts in ihren Händen;
und während sie sich bei der Mutter Christi über den Spott beklagte, begann
sie reichlich zu weinen. Als dies der Vater hörte, lachte er über die Tochter 25
und sagte, um sie zu trösten: „Gehe nur an den Fest- und Feiertagen zu der
Lehrerin, die die Töchter der Reichen das göttliche Psalterbuch lehrt; dort
sollst du zuerst lesen lernen und vielleicht wird dir später die heilige Maria
ein Psalterbuch besorgen.“
3Die folgende Geschichte greift mit der Illiteralität des frommen Mädchens und dessen
wunderbarer Hinwendung zur Schriftkundigkeit einen hagiographischen Topos des 13.
Jahrhunderts auf S. dazu SMITH, Exemplarity and its limits, S. 195-204.
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anvertraut hatten, dem Herrn vor, damit er diese durch seine Milde vor
jedwedem Unheil schütze. Und höre das höchst erstaunliche Wunder, das
jene mir selbst berichtete. In einem Moment, da sie an jene Menschen in
Gebeten dachte, nahm sie einen Mangel an Tugend oder Gunst so merklich
wahr, als wenn sie eine körperliche Verletzung in irgendeinem Gelenk oder 5
Glied ihres Körpers fühlte. Deswegen weiß ich mit absoluter Sicherheit,
dass durch ihre Gebete viele Menschen von sehr langanhaltenden
Versuchungen, Gefahren oder Unheil befreit wurden.
[3] Über sie wurde von allen Menschen ein unzweifelhaftes Wunder
überliefert. Sie war die Tochter eines bitterarmen Mannes, und als sie ein 10
etwa siebenjähriges Mädchen war, wurde ihr Geist im Inneren von einem
wundersamen Eifer ergriffen; sie bat daher ihren Vater unter Tränen, ihr ein
Psalterbuch zu beschaffen.3 Darauf sagte der Vater: „Woher soll ich dir,
Tochter, ein Psalterbuch beschaffen, wo ich dir doch kaum ausreichend Brot
besorgen kann?“ Bald betete jene demütig zur Mutter Christi gewandt und 15
sagte: „O heilige Maria, Mutter Christi, gib mir ein Psalterbuch, da es mir
der Vater nicht geben kann, und ich will auf ewig deine Magd sein.“ Sie
blieb ein Jahr lang bei dieser aufrichtigen Bitte und siehe, im Schlaf
erschien ihr die heilige Jungfrau Maria, die, wie es ihr schien, in der Hand
zwei Psalterbücher hielt und zu ihr sagte: „Nimm nun an dich, meine 20
Tochter, welches auch immer von den beiden du wählst.“ Und als sie sofort
mit größtem Jubel ein Buch auswählte, verschwand die heilige Jungfrau, das
Mädchen aber erwachte aus dem Schlaf und fand nichts in ihren Händen;
und während sie sich bei der Mutter Christi über den Spott beklagte, begann
sie reichlich zu weinen. Als dies der Vater hörte, lachte er über die Tochter 25
und sagte, um sie zu trösten: „Gehe nur an den Fest- und Feiertagen zu der
Lehrerin, die die Töchter der Reichen das göttliche Psalterbuch lehrt; dort
sollst du zuerst lesen lernen und vielleicht wird dir später die heilige Maria
ein Psalterbuch besorgen.“
3Die folgende Geschichte greift mit der Illiteralität des frommen Mädchens und dessen
wunderbarer Hinwendung zur Schriftkundigkeit einen hagiographischen Topos des 13.
Jahrhunderts auf S. dazu SMITH, Exemplarity and its limits, S. 195-204.