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BUA 1,25
207
solchen Tod, dass nichts kostbarer ist für diejenigen, die Christus immer
noch durch die erwiderte Liebe in ihrem Innersten umarmen.
[3] Das wird auch im „Buch über die Natur der Dinge“1 sehr anschaulich
dargestellt: „Der Arpia ist ein Vogel“ in der Wüste Indiens, „an einem Ort,
der nach dem ionischen Meer ,Stragopales‘ genannt wird; dieser Vogel ist 5
beinahe immer unersättlich nach Beute. Er hat das Gesicht eines Menschen,
aber an ihm ist nichts von der menschlichen Tugend. Denn er tobt mit
Wildheit umher, über jedes menschliche Maß hinaus. Dieser Vogel soll den
ersten Menschen, den er in der Wüste sah, getötet haben. Daher sah er, als er
zufällig ein Gewässer fand und sein Gesicht darin betrachtete, bald, dass er 10
einen ihm ähnlichen Menschen getötet hatte; und er trauert nicht wenig und
dies zuweilen bis zu seinem Tod, oder er beklagt Zeit seines Lebens den
Toten.“
Wofür steht dieser grausame Vogel, wenn nicht für das
Menschengeschlecht? Dieses hat nämlich vom Anbeginn der Erde 15
untereinander stets mit tierischer Wildheit gewütet und ist bis zu diesem
schrecklichen Vergehen gelangt, dass es Gott, den Schöpfer aller Dinge, der
in Menschengestalt zu seiner Erlösung in die Wüste dieser Welt kam,
verachtet und den Erlöser getötet hat. Welcher Mensch also ist so grausam
und unmenschlich, dass er nicht, wenn er es in der Heiligen Schrift wie in 20
einem glasklaren Spiegel sieht, ehrfürchtig vor dem Sohn Gottes schaudert,
der zum Menschen unter Menschen und wegen der Menschen geworden ist,
und von ihm, das heißt um seinetwillen, verraten wurde, und dass er nicht
bis ins Mark Mitleid empfindet mit dem Getöteten || oder mit dem Toten
zusammen stirbt || oder ihn mit untröstlichen Tränen täglich beweint? Deshalb 25
sagt Hiob: „Du wirst dein Gesicht ansehen und nicht sündigen.“ Und Paulus
sagt zu den Hebräern: „Gedenkt seiner, der durch die Sünder solche Not
lDie Naturenzyklopädie Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpre, entstanden ca.
1230-1255. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA prolog.
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solchen Tod, dass nichts kostbarer ist für diejenigen, die Christus immer
noch durch die erwiderte Liebe in ihrem Innersten umarmen.
[3] Das wird auch im „Buch über die Natur der Dinge“1 sehr anschaulich
dargestellt: „Der Arpia ist ein Vogel“ in der Wüste Indiens, „an einem Ort,
der nach dem ionischen Meer ,Stragopales‘ genannt wird; dieser Vogel ist 5
beinahe immer unersättlich nach Beute. Er hat das Gesicht eines Menschen,
aber an ihm ist nichts von der menschlichen Tugend. Denn er tobt mit
Wildheit umher, über jedes menschliche Maß hinaus. Dieser Vogel soll den
ersten Menschen, den er in der Wüste sah, getötet haben. Daher sah er, als er
zufällig ein Gewässer fand und sein Gesicht darin betrachtete, bald, dass er 10
einen ihm ähnlichen Menschen getötet hatte; und er trauert nicht wenig und
dies zuweilen bis zu seinem Tod, oder er beklagt Zeit seines Lebens den
Toten.“
Wofür steht dieser grausame Vogel, wenn nicht für das
Menschengeschlecht? Dieses hat nämlich vom Anbeginn der Erde 15
untereinander stets mit tierischer Wildheit gewütet und ist bis zu diesem
schrecklichen Vergehen gelangt, dass es Gott, den Schöpfer aller Dinge, der
in Menschengestalt zu seiner Erlösung in die Wüste dieser Welt kam,
verachtet und den Erlöser getötet hat. Welcher Mensch also ist so grausam
und unmenschlich, dass er nicht, wenn er es in der Heiligen Schrift wie in 20
einem glasklaren Spiegel sieht, ehrfürchtig vor dem Sohn Gottes schaudert,
der zum Menschen unter Menschen und wegen der Menschen geworden ist,
und von ihm, das heißt um seinetwillen, verraten wurde, und dass er nicht
bis ins Mark Mitleid empfindet mit dem Getöteten || oder mit dem Toten
zusammen stirbt || oder ihn mit untröstlichen Tränen täglich beweint? Deshalb 25
sagt Hiob: „Du wirst dein Gesicht ansehen und nicht sündigen.“ Und Paulus
sagt zu den Hebräern: „Gedenkt seiner, der durch die Sünder solche Not
lDie Naturenzyklopädie Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpre, entstanden ca.
1230-1255. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA prolog.