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also lange nach, bevor sich dir jemand in einer Freundschaft verbindet.
Wenn es dir gefällt, lasse jenen in dein ganzes Herz ein und sprich mit ihm
so mutig wie mit dir selbst.“ „Beides ist ein Fehler: Sowohl allen als auch
keinem zu glauben.“ Sei immer der Freundschaft verpflichtet. „Glaube
niemandem etwas gegen einen Freund, wenn du es nicht selbst bewiesen 5
hast.“ Wahre Freundschaft hat niemals geirrt, sondern immer zuverlässig
angedauert. Wenn irgendetwas im Gegensatz dazu getan wurde, ist es nie
wahre Freundschaft gewesen.
[2] Über zwei wahre Freunde hat mir ein Mann, der sich der Philosophie
gewidmet hatte, Folgendes erzählt.1 Es gab, wie ich mich entsinne, wenig 10
vor unserer Zeit einen gewissen jungen Mann, der klug im Geist und sehr
reich war und der aufgrund von Handelstätigkeit seine Gesandten durch
verschiedene Teile der Welt schickte. Als einige von ihnen ins Morgenland
kamen, trafen sie einen gewissen Heiden, der an allen Gütern und Dingen
der Welt über die Maße höchst reich war sowie in allen Dingen freigiebig 15
und treu. Was weiter? Sie verkündeten jenem, dass sie einen solchen Herrn
hatten. Sie reisten ab, kehrten wieder zurück und brachten dem Heiden
Geschenke von ihrem Herrn, und dann brachten sie wiederum dem jungen
Christen noch größere Geschenke. Hierauf wurde der junge Mann so sehr
von Liebe und Bewunderung entflammt, dass er eilig mit einem großen 20
Gefolge und mit Geschenken in das Morgenland zog, um den Heiden zu
sehen. Nachdem jener Heide ihn mit großer Ehrbezeugung und Jubel
empfangen hatte, lernte er ihn als einen ehrlichen und sittsamen Menschen
kennen, als klug mit Scharfsinn und vor allem freigiebig, und er behielt ihn
für eine nicht geringe Zeit und mit nicht geringen Kosten bei sich. 25
Als er erwog, in seine Heimat zurückzukehren, führte ihn der Heide zu
seinen unvergleichlichen Schätzen. Als jener sich aber aufs Standhafteste
1Für eine weitere Übersetzung s. KIRSCH, Des Thomas von Chantimpre Buch, S. 42- 44. Eine
vergleichbare Geschichte bietet der Predigertraktat (Tractatus de diversis materiis
praedicabilibus^ des Dominikaners Stephan von Bourbon (um 1180 oder 1190/95-1261). S.
Stephani de Borbone Tractatus II, V, l. 109-135; zu Stephan s. außerdem Kapitel II. 1. der
Einleitung zur Edition. Zum Stellenwert der amicitia im Werk des Thomas von Cantimpre s.
(allerdings mit Bezug auf die von Thomas verfassten Hagiographien weiblicher Religiöser)
Meril-BelliniDelle Stelle, L ’ecriture.
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also lange nach, bevor sich dir jemand in einer Freundschaft verbindet.
Wenn es dir gefällt, lasse jenen in dein ganzes Herz ein und sprich mit ihm
so mutig wie mit dir selbst.“ „Beides ist ein Fehler: Sowohl allen als auch
keinem zu glauben.“ Sei immer der Freundschaft verpflichtet. „Glaube
niemandem etwas gegen einen Freund, wenn du es nicht selbst bewiesen 5
hast.“ Wahre Freundschaft hat niemals geirrt, sondern immer zuverlässig
angedauert. Wenn irgendetwas im Gegensatz dazu getan wurde, ist es nie
wahre Freundschaft gewesen.
[2] Über zwei wahre Freunde hat mir ein Mann, der sich der Philosophie
gewidmet hatte, Folgendes erzählt.1 Es gab, wie ich mich entsinne, wenig 10
vor unserer Zeit einen gewissen jungen Mann, der klug im Geist und sehr
reich war und der aufgrund von Handelstätigkeit seine Gesandten durch
verschiedene Teile der Welt schickte. Als einige von ihnen ins Morgenland
kamen, trafen sie einen gewissen Heiden, der an allen Gütern und Dingen
der Welt über die Maße höchst reich war sowie in allen Dingen freigiebig 15
und treu. Was weiter? Sie verkündeten jenem, dass sie einen solchen Herrn
hatten. Sie reisten ab, kehrten wieder zurück und brachten dem Heiden
Geschenke von ihrem Herrn, und dann brachten sie wiederum dem jungen
Christen noch größere Geschenke. Hierauf wurde der junge Mann so sehr
von Liebe und Bewunderung entflammt, dass er eilig mit einem großen 20
Gefolge und mit Geschenken in das Morgenland zog, um den Heiden zu
sehen. Nachdem jener Heide ihn mit großer Ehrbezeugung und Jubel
empfangen hatte, lernte er ihn als einen ehrlichen und sittsamen Menschen
kennen, als klug mit Scharfsinn und vor allem freigiebig, und er behielt ihn
für eine nicht geringe Zeit und mit nicht geringen Kosten bei sich. 25
Als er erwog, in seine Heimat zurückzukehren, führte ihn der Heide zu
seinen unvergleichlichen Schätzen. Als jener sich aber aufs Standhafteste
1Für eine weitere Übersetzung s. KIRSCH, Des Thomas von Chantimpre Buch, S. 42- 44. Eine
vergleichbare Geschichte bietet der Predigertraktat (Tractatus de diversis materiis
praedicabilibus^ des Dominikaners Stephan von Bourbon (um 1180 oder 1190/95-1261). S.
Stephani de Borbone Tractatus II, V, l. 109-135; zu Stephan s. außerdem Kapitel II. 1. der
Einleitung zur Edition. Zum Stellenwert der amicitia im Werk des Thomas von Cantimpre s.
(allerdings mit Bezug auf die von Thomas verfassten Hagiographien weiblicher Religiöser)
Meril-BelliniDelle Stelle, L ’ecriture.