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Nachdem ich dies aber viele Jahre später von Brüdern aus Trier gehört und
mich über die abwärts führende Mosel mit dem Schiff dem Haus des
besagten Mannes genähert hatte, verließ ich das Schiff und ging zu Fuß, um
den Mann, seine Frau und den Sohn zu sehen. Und ich kehrte nicht wenig
erbaut durch seine Art und seine Worte zurück. Er war nämlich eine 5
gänzliche Ausnahme von der Art des Lebens, der Worte und der Taten der
Bewohner jenes Landes, die in den Weinbergen und Einöden nach
bäuerlichen Sitten leben.
[13] Zu unserem zweiten Grundsatz, dass nämlich Bedürftigen
Gastfreundschaft gewährt werden muss, geschah der ehrwürdigen Ada de 10
Belomeir ein solches Wunder.13 Während ihr sehr edler Mann als Ritter
fortgegangen war und gleichsam für viele Tage nicht zurückkehren würde,
wurde ein Lepröser, der um Gastfreundschaft bat, aufgenommen. Während
jener also klagte und als Grund vorbrachte, die Schwäche seines Körpers
ermüde ihn, bat er, sich in das weicheste Bett legen zu dürfen. Die Herrin 15
aber war der Ansicht, dass keines weicher sei als das Bett ihres Herrn und
legte den leprösen Menschen bald dort hinein. Als der Herr unverhofft
zurückkehrte, verlangte er ohne Verzögerung, in sein Gemach gelassen zu
werden. Obwohl die Herrin also vorgab, dass nichts sei, erriet jener, dass
jemand in dem Gemach war und fand, als er hineingestürmt war, zu 20
winterlicher Zeit sein Bett mit den frischesten Rosen bedeckt. Er wunderte
sich also und fragte, was geschehen sei und seine Frau offenbarte es ihm.
Ohne Verzögerung ergingen sich beide unter Tränen im Lob Christi.
[14] Zum dritten Grundsatz, dass der Nackte zu bekleiden sei: Die berühmte
Dame Alheidis, Gräfin von Chartres und Blois,14 hat mir von ihrem Ahnen 25
erzählt und gesagt: „Der bei den Baronen Frankreichs sehr angesehene und
l3Ada, genannt „de Belomeir“, offenbar eine fiktive Figur. S. auch Thom. Cantimpr. BUA
11,54,5. Eine vergleichbare Geschichte findet sich in dem Predigertraktat (Tractatus de diversis
materiis praedicabilibus^ des Dominikaners Stephan von Bourbon (um 1180 oder
1190 95-1261). S. Stephani de Borbone Tractatus II,VII, l. 1266-1281. Zu Stephans, außerdem
Kapitel II. 1. der Einleitung zur Edition. | uMit dem Verweis auf ein persönliches Gespräch
verortet Thomas die Episode zeitlich. Demnach könnte es sich bei der „Erzählerin “ um Alix von
Blois handeln, die von 1208 bis 1218 Äbtissin des Klosters Fontevrault war. Als Tochter
Theobalds V. („der Gute“, Graf von Blois-Chartres 1152-1191) war Alix eine Enkelin
Theobalds IV. (s. Anm. 15), was die Bezeichnung avo im Text rechtfertigen würde; s. dazu die
Genealogie bei BERMAN, White Nuns, S. 75. Da für Fontevrault zu Beginn des 13. Jahrhunderts
mehrere Äbtissinnen namens Alix Alheydis belegt sind, differieren die Zuordnungen und
Datierungen in der Literatur, s. beispielsweise Gallia Christiana II, Sp. 1321f. oder S. DELISLE,
Memoire, S. 518-522.
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Nachdem ich dies aber viele Jahre später von Brüdern aus Trier gehört und
mich über die abwärts führende Mosel mit dem Schiff dem Haus des
besagten Mannes genähert hatte, verließ ich das Schiff und ging zu Fuß, um
den Mann, seine Frau und den Sohn zu sehen. Und ich kehrte nicht wenig
erbaut durch seine Art und seine Worte zurück. Er war nämlich eine 5
gänzliche Ausnahme von der Art des Lebens, der Worte und der Taten der
Bewohner jenes Landes, die in den Weinbergen und Einöden nach
bäuerlichen Sitten leben.
[13] Zu unserem zweiten Grundsatz, dass nämlich Bedürftigen
Gastfreundschaft gewährt werden muss, geschah der ehrwürdigen Ada de 10
Belomeir ein solches Wunder.13 Während ihr sehr edler Mann als Ritter
fortgegangen war und gleichsam für viele Tage nicht zurückkehren würde,
wurde ein Lepröser, der um Gastfreundschaft bat, aufgenommen. Während
jener also klagte und als Grund vorbrachte, die Schwäche seines Körpers
ermüde ihn, bat er, sich in das weicheste Bett legen zu dürfen. Die Herrin 15
aber war der Ansicht, dass keines weicher sei als das Bett ihres Herrn und
legte den leprösen Menschen bald dort hinein. Als der Herr unverhofft
zurückkehrte, verlangte er ohne Verzögerung, in sein Gemach gelassen zu
werden. Obwohl die Herrin also vorgab, dass nichts sei, erriet jener, dass
jemand in dem Gemach war und fand, als er hineingestürmt war, zu 20
winterlicher Zeit sein Bett mit den frischesten Rosen bedeckt. Er wunderte
sich also und fragte, was geschehen sei und seine Frau offenbarte es ihm.
Ohne Verzögerung ergingen sich beide unter Tränen im Lob Christi.
[14] Zum dritten Grundsatz, dass der Nackte zu bekleiden sei: Die berühmte
Dame Alheidis, Gräfin von Chartres und Blois,14 hat mir von ihrem Ahnen 25
erzählt und gesagt: „Der bei den Baronen Frankreichs sehr angesehene und
l3Ada, genannt „de Belomeir“, offenbar eine fiktive Figur. S. auch Thom. Cantimpr. BUA
11,54,5. Eine vergleichbare Geschichte findet sich in dem Predigertraktat (Tractatus de diversis
materiis praedicabilibus^ des Dominikaners Stephan von Bourbon (um 1180 oder
1190 95-1261). S. Stephani de Borbone Tractatus II,VII, l. 1266-1281. Zu Stephans, außerdem
Kapitel II. 1. der Einleitung zur Edition. | uMit dem Verweis auf ein persönliches Gespräch
verortet Thomas die Episode zeitlich. Demnach könnte es sich bei der „Erzählerin “ um Alix von
Blois handeln, die von 1208 bis 1218 Äbtissin des Klosters Fontevrault war. Als Tochter
Theobalds V. („der Gute“, Graf von Blois-Chartres 1152-1191) war Alix eine Enkelin
Theobalds IV. (s. Anm. 15), was die Bezeichnung avo im Text rechtfertigen würde; s. dazu die
Genealogie bei BERMAN, White Nuns, S. 75. Da für Fontevrault zu Beginn des 13. Jahrhunderts
mehrere Äbtissinnen namens Alix Alheydis belegt sind, differieren die Zuordnungen und
Datierungen in der Literatur, s. beispielsweise Gallia Christiana II, Sp. 1321f. oder S. DELISLE,
Memoire, S. 518-522.