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[12] In dieser Zeit gab es aber in Paris einen gewissen Erzdiakon aus
Deutschland, Theoderich mit Namen, der vor allen Klerikern der Stadt von
besonders ansehnlicher Gestalt war und nicht ohne Grund „der schöne
Deutsche“ mit Beinamen hieß. Er war nämlich mütterlicherseits der Onkel
des genannten jungen Mannes, und weil er über seinen Neffen schwer 5
erzürnt war, schob er es lange auf, jenen zu sehen. Als er aber endlich in die
Heimat zurückkehren musste, ließ er diesem durch einen Kleriker
ausrichten, dass er, um ihn zu sehen, am folgenden Tag kommen werde. Als
der Knabe, Bruder Albert, dies hörte, eilte er zum Magister und auch zu den
eher geistlichen Brüdern und flehte alle demütig an, für das Heil des Onkels, 10
den er aufrichtig liebte, zum Herrn zu beten.
Als dies geschehen war, kam sein Onkel, der Erzdiakon, und sie setzten sich
in der Kapelle zum Gespräch zusammen. Bald sagte er mit Tränen in den
Augen zum Knaben: „Wie konntest du das tun, Liebster, deine Mutter,
meine Schwester, von deren Söhnen allein du am Leben geblieben bist, und 15
mich, deinen Onkel, der ich dich vor allen liebe, zu verlassen? Und nun
stirbt deine Mutter, wie ich höre, vor Traurigkeit; aber auch ich bin nach
deinem Ordens eintritt ermattet und sterbe beinahe und niemals werde ich
mich durch irgendeinen Trost erholen, wenn ich nicht dafür sorge, dass du
innerhalb eines Jahres (das dir als Probezeit vergönnt sei) in die Welt 20
zurückkehrst.“ Ihm antwortete der Knabe mit der wunderbaren Gnade der
Worte und fragte: „Siehe die Gestalten, die in den drei Bildern im
Glasfenster vor uns dargestellt sind. Wer sind denn die, deren Andenken
jene vergegenwärtigen, Liebster? Sind es denn etwa nicht Christus und seine
Mutter und deren Vetter Johannes, der unter den Übrigen besonders 25
geschätzt ist? Aus diesen sollst du wahrhaft folgern, dass, auch wenn
Christus seine Mutter und besonders seine Mutter sehr geliebt hat, er sie
doch so sehr von seinem Leiden gequält sah, dass er wie ein Schwert den
Geist ihres Schmerzes durchzog; seinen geliebten Vetter aber, den
Evangelisten Johannes, sah er mehr als man glauben kann von einem 30
Kummer des Schmerzes belastet; und auch wenn er es vermocht hätte vom
Kreuz zu steigen, wollte er es auch um ihretwillen nicht, sondern er blieb
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[12] In dieser Zeit gab es aber in Paris einen gewissen Erzdiakon aus
Deutschland, Theoderich mit Namen, der vor allen Klerikern der Stadt von
besonders ansehnlicher Gestalt war und nicht ohne Grund „der schöne
Deutsche“ mit Beinamen hieß. Er war nämlich mütterlicherseits der Onkel
des genannten jungen Mannes, und weil er über seinen Neffen schwer 5
erzürnt war, schob er es lange auf, jenen zu sehen. Als er aber endlich in die
Heimat zurückkehren musste, ließ er diesem durch einen Kleriker
ausrichten, dass er, um ihn zu sehen, am folgenden Tag kommen werde. Als
der Knabe, Bruder Albert, dies hörte, eilte er zum Magister und auch zu den
eher geistlichen Brüdern und flehte alle demütig an, für das Heil des Onkels, 10
den er aufrichtig liebte, zum Herrn zu beten.
Als dies geschehen war, kam sein Onkel, der Erzdiakon, und sie setzten sich
in der Kapelle zum Gespräch zusammen. Bald sagte er mit Tränen in den
Augen zum Knaben: „Wie konntest du das tun, Liebster, deine Mutter,
meine Schwester, von deren Söhnen allein du am Leben geblieben bist, und 15
mich, deinen Onkel, der ich dich vor allen liebe, zu verlassen? Und nun
stirbt deine Mutter, wie ich höre, vor Traurigkeit; aber auch ich bin nach
deinem Ordens eintritt ermattet und sterbe beinahe und niemals werde ich
mich durch irgendeinen Trost erholen, wenn ich nicht dafür sorge, dass du
innerhalb eines Jahres (das dir als Probezeit vergönnt sei) in die Welt 20
zurückkehrst.“ Ihm antwortete der Knabe mit der wunderbaren Gnade der
Worte und fragte: „Siehe die Gestalten, die in den drei Bildern im
Glasfenster vor uns dargestellt sind. Wer sind denn die, deren Andenken
jene vergegenwärtigen, Liebster? Sind es denn etwa nicht Christus und seine
Mutter und deren Vetter Johannes, der unter den Übrigen besonders 25
geschätzt ist? Aus diesen sollst du wahrhaft folgern, dass, auch wenn
Christus seine Mutter und besonders seine Mutter sehr geliebt hat, er sie
doch so sehr von seinem Leiden gequält sah, dass er wie ein Schwert den
Geist ihres Schmerzes durchzog; seinen geliebten Vetter aber, den
Evangelisten Johannes, sah er mehr als man glauben kann von einem 30
Kummer des Schmerzes belastet; und auch wenn er es vermocht hätte vom
Kreuz zu steigen, wollte er es auch um ihretwillen nicht, sondern er blieb