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Thomas; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Von Bienen lernen: das "Bonum universale de apibus" des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf : Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar (Teilband 2): Analyse, Edition, Übersetzung und Kommentar — Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.53742#0814
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BUA 11,46

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bedeutet Freiheit,“ wunderbare Freude und Erleuchtung des Geistes, wahre
Erneuerung und Ruhe, die von Unruhen sehr fröhlich erheitert wurde.
[4] Ich habe in Frankreich einen jungen Mann in einem Regularorden
gesehen, der sehr schwach in der Wissenschaft war und einen stumpfen
Verstand hatte. Dennoch brachte er seinen Geist eindringlich zum Lernen 5
und widmete sich ziemlich hingebungsvoll dem Studium der Schriften. Er
hatte aber, wie ich aus seiner eigenen Offenbarung erfahren habe, die
Gewohnheit, dass er sich stets an jedem Abend nach dem eingehenden
Gebet das Tagesstudium gänzlich ins Gedächtnis rief und sich so ins Bett
legte. Bald als er den Klang des Glöckchens zur Erweckung der Brüder aus 10
der Nachtruhe hörte, kam ihm jene letzte Erinnerung einer Lesung ins
Gedächtnis, mit der er am Abend eingeschlafen war, und er stand mit
geschlossenen Augen auf, um sich mit ihr zum Chor zur Matutin zu
begeben. Ihm erschien jedoch wie ein weiter, hoher, langer und
wunderschöner Palast eine ganze Reihe von Schriften, und er verstand diese 15
in jener Stunde auf so vollkommenste Weise, dass ihm keine auch der
schwierigsten Fragen unlösbar erschien, sondern er alle Geheimnisse der
Schriften wie fünf Finger an einer Hand auf einleuchtendste Weise
beurteilte. Als er aber einmal nur für einen Augenblick die Augen öffnete,
verschwand die Vision, und er konnte sich nicht an die kleinsten Details 20
dieser Vision erinnern, sondern nur auf oberflächliche Weise; waren die
Augen jedoch erneut geschlossen, kehrte die Vision plötzlich zurück. Und
es gab in dieser Vision etwas über die Maße Wundersames, nämlich dass er
- während er mit den übrigen Brüdern Psalmen sang - in keiner Weise
innerlich getäuscht wurde, weder durch das kontemplative Gebet noch durch 25
dessen bewundernswerte Lieblichkeit, sondern er teilte seine
Aufmerksamkeit gewissermaßen zwischen dem Psalmensingen und dem
Beten und erfreute sich unvergleichbar an beiderlei Genuss. Und dies ist es,
was der Philosoph offenbart, wenn er sagt: „Wenn doch nur die ganze
Gestalt der Welt in unseren Blick kommt, so kann uns die gesamte 30
Philosophie begegnen. Das schönste Schauspiel wird nämlich auf der Welt
aufgeführt. Danach riss es nämlich alle Menschen zu seiner Bewunderung
hin und von den übrigen Dingen, die wir für große Unkenntnis des Wahren
halten, werden wir allmählich leichter durch die einzelnen Bestandteile zur
Erkenntnis der gesamten Wahrheit geleitet.“ 35
 
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