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Wegen der Gefahren der nahegelegenen Wälder waren sie verängstigt und
begannen zu weinen. Als sie heftig weinten, erschien vor ihnen plötzlich ein
junger Mann. Es war aber, wie mir eine der beiden erzählte, ein junger
Mann mit krausem goldgelbem Haar, der mit einer weißen Tunika und
einem gleichfalls weißen Wams darüber bekleidet war. Nachdem jene 5
gegrüßt hatten, fragte er sie, wohin sie sie gingen. Als sie aber antworteten:
„Wir wollen nach Lillois gehen“, fragten sie ihn darauf, ob er den Weg
wisse. Und jener antwortete: „Den kenne ich, folgt mir.“ Sie folgten ihm
also, wobei er mit Stillschweigen voranging. Aufgrund außerordentlicher
Geistesfreude und Verblüffung vermochte keine von ihnen etwas zu sagen. 10
Und als die eilig Gehenden plötzlich das Dorf sahen, verloren sie ihren
jungen Führer aus den Augen. Bald warfen sie sich ausgestreckt auf die
Erde und begannen bitterlich zu weinen, weil sie nichts weiter zu ihrem so
großen Führer gesagt hatten. Aber als sie nach den Tränen zur Einsicht
zurückfanden, priesen sie Gott außerordentlich, riefen sich das süße 15
Geschehen von da an öfter in Erinnerung und machten mit diesem Trost in
ihrem spirituellen Leben Fortschritte.
[11] Ähnliches ereignete sich bei zwei Brüdern des Predigerordens, wie wir
durch Bruder Heinrich von Köln, den vornehmsten Prediger unter den
Brüdern,8 aus unzweifelhaftem Bericht erfahren haben. Als jener Orden 20
gerade neu gegründet worden war,9 geschah es in Frankreich, dass zwei
Predigerbrüder in der Fastenzeit vor Ostern einherschritten, als schon die
Zeit des Frühstücks bevorstand, die neunte Stunde; und sie fragten sich, wer
von den Gläubigen sie zur Erfrischung in dieser für die Menschen
ungewöhnlichen und unbekannten Landschaft aufiiehmen werde. Plötzlich 25
erschien neben ihnen ein Mann von vornehmer Gestalt und mit der
Kleidung eines Pilgers, der sagte: „Was beratet ihr untereinander, meine
Brüder?“ Da jene sich zu sagen scheuten, was sie sich gefragt hatten, sagte
er zu ihnen: „Voll Zweifel und mit nur maßvollem Glauben habt ihr euch
untereinander befragt, wer euch zur Erfrischung in dieser für die Menschen 30
ungewöhnlichen und unbekannten Landschaft aufiiehmen werde. Glaubt
Christus, der Wahrheit, der denjenigen, die nicht zögern und auf sich
^Offenbar Heinrich von Marsberg OP, deutscher Dominikaner (gest. 1254). S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,3,6. | 9Zur Frühgeschichte des Dominikanerordens in
Frankreich und des hier angesprochenen, 1217/18 gegründeten Pariser Konvents St. Jacques s.
VlCAIRE, Geschichte, Bd. 2, S. 99-108. S. für weitere Informationen auch Thom. Cantimpr. BUA
1,9,4.
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Wegen der Gefahren der nahegelegenen Wälder waren sie verängstigt und
begannen zu weinen. Als sie heftig weinten, erschien vor ihnen plötzlich ein
junger Mann. Es war aber, wie mir eine der beiden erzählte, ein junger
Mann mit krausem goldgelbem Haar, der mit einer weißen Tunika und
einem gleichfalls weißen Wams darüber bekleidet war. Nachdem jene 5
gegrüßt hatten, fragte er sie, wohin sie sie gingen. Als sie aber antworteten:
„Wir wollen nach Lillois gehen“, fragten sie ihn darauf, ob er den Weg
wisse. Und jener antwortete: „Den kenne ich, folgt mir.“ Sie folgten ihm
also, wobei er mit Stillschweigen voranging. Aufgrund außerordentlicher
Geistesfreude und Verblüffung vermochte keine von ihnen etwas zu sagen. 10
Und als die eilig Gehenden plötzlich das Dorf sahen, verloren sie ihren
jungen Führer aus den Augen. Bald warfen sie sich ausgestreckt auf die
Erde und begannen bitterlich zu weinen, weil sie nichts weiter zu ihrem so
großen Führer gesagt hatten. Aber als sie nach den Tränen zur Einsicht
zurückfanden, priesen sie Gott außerordentlich, riefen sich das süße 15
Geschehen von da an öfter in Erinnerung und machten mit diesem Trost in
ihrem spirituellen Leben Fortschritte.
[11] Ähnliches ereignete sich bei zwei Brüdern des Predigerordens, wie wir
durch Bruder Heinrich von Köln, den vornehmsten Prediger unter den
Brüdern,8 aus unzweifelhaftem Bericht erfahren haben. Als jener Orden 20
gerade neu gegründet worden war,9 geschah es in Frankreich, dass zwei
Predigerbrüder in der Fastenzeit vor Ostern einherschritten, als schon die
Zeit des Frühstücks bevorstand, die neunte Stunde; und sie fragten sich, wer
von den Gläubigen sie zur Erfrischung in dieser für die Menschen
ungewöhnlichen und unbekannten Landschaft aufiiehmen werde. Plötzlich 25
erschien neben ihnen ein Mann von vornehmer Gestalt und mit der
Kleidung eines Pilgers, der sagte: „Was beratet ihr untereinander, meine
Brüder?“ Da jene sich zu sagen scheuten, was sie sich gefragt hatten, sagte
er zu ihnen: „Voll Zweifel und mit nur maßvollem Glauben habt ihr euch
untereinander befragt, wer euch zur Erfrischung in dieser für die Menschen 30
ungewöhnlichen und unbekannten Landschaft aufiiehmen werde. Glaubt
Christus, der Wahrheit, der denjenigen, die nicht zögern und auf sich
^Offenbar Heinrich von Marsberg OP, deutscher Dominikaner (gest. 1254). S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,3,6. | 9Zur Frühgeschichte des Dominikanerordens in
Frankreich und des hier angesprochenen, 1217/18 gegründeten Pariser Konvents St. Jacques s.
VlCAIRE, Geschichte, Bd. 2, S. 99-108. S. für weitere Informationen auch Thom. Cantimpr. BUA
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