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Thomas; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Von Bienen lernen: das "Bonum universale de apibus" des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf : Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar (Teilband 2): Analyse, Edition, Übersetzung und Kommentar — Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.53742#1000
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BUA 11,55

995

Kirche saß, um Beichten abzunehmen,2 ein Knabe von fast 15 Jahren herbei,
der sich mir mit außergewöhnlichem Schmerz vor die Füße warf und sagte:
„Erbarmt euch meiner, Herr, erbarmt euch, denn mir ist am heutigen Tag
etwas Schreckliches widerfahren.“ Erstaunt darüber, was für ein
schreckliches Geschehen einem solchen Knaben geschehen war, ermutigte 5
ich ihn sogar selbst unter Tränen, er möge doch mutig berichten, was es
gewesen sei. „Ach“, sagte er, „Herr, ich saß mit Gefährten auf dem Feld bei
den Schafen und schnitzte einen kleinen Span, um ihn zu einem Pfeil zu
machen, und siehe, der Span wurde mit Blut getränkt und bespritzt, ohne
irgendeine Wunde oder Verletzung bei mir verursacht zu haben.“ Als ich 10
dies gehört hatte, war ich gewiss verwundert und froh, dass dem Jungen
nichts Schwereres zugestoßen war, erkannte jedoch darin bald ein
Vorzeichen für irgendein künftiges Unglück. Ich ließ den Knaben bestärkt,
ermahnt und von seinen Sünden freigesprochen zurück.
Ein Zeitraum von kaum sieben Tagen lag dazwischen, als siehe, die Mutter 15
desselben Knaben berichtete, der Junge sei schwer erkrankt und verlange
meine Ankunft unter Tränen. Ohne Zögern stand ich auf und kam zu dem
Knaben; er beichtete eine für einen solchen Knaben sehr schwere Sünde, die
ihm am sechsten Tag nach dem Ostertag3 geschehen war und fügte hinzu:
„Durch den Schrecken über das Verbrechen bin ich aufgezehrt worden und 20
sofort ermattet. Inmitten der Nacht aber, als ich allein in meinem Bett lag,
schien es mir, als würde ich sterben und siehe, äußerst bösartige Männer
raubten meine Seele, trugen sie durch ein äußerst abscheuliches und sehr
langes Tal voller Rauch und warfen sie wie einen Klumpen Eis, der im
Feuer schmilzt, in eine sehr tiefe Grube, die von der Hitze der Flammen 25
glühte.“ Bemerke, Leser, den erstaunlichen Vergleich, der, Christus sei mein
Zeuge, von diesem Knaben vorgetragen wurde. „Als ich genau dort durch
außergewöhnliche Verbrennungen Qualen litt, siehe, da hörte ich eine
Stimme, die gleichsam sprach: ,Schont den Knaben, schont seine Jugend‘,
und sofort wurde ich ergriffen und dem Leben zurückgegeben. Sobald ich 30
aber meine Augen öffnete, sah ich eine Herrin von wunderbarer Schönheit
bei mir stehen und hörte sie sagen: ,Fürchte dich nicht, teurer Sohn, du hast

2Zwr Tätigkeit des Thomas von Cantimpre als Prediger, Beichtvater und Seelsorger im Bistum
Cambrai s. bereits Thom. Cantimpr. BUA 11,11,1 sowie die Ausführungen in Kapitel 1 der
Einleitung zur Edition. | ^Zeitlich ist keine Konkordanz mit Thomas ’ Angaben herzustellen:
Wenn die erste Beichte an Palmsonntag stattfand, müsste die Mutter des Jungen Thomas am
Osterwochenende aufgesucht haben. Allerdings beging der Junge seine Sünde am „ sechsten Tag
nach Ostern “, also rund zwei Wochen nach der ersten Beichte.
 
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